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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Bildnisse.
Zügen gegebenen Ausdruck des Momentes. Zwei davon sind in dop-
pelten Exemplaren aufgestellt.

Die vorgeschlagene Zusammenstellung der Niobiden mit dem Apoll
vom Belvedere und der Diana von Versailles kann nur befangenen
Gemüthern zusagen. Beide sind ihrem Typus nach viel spätern Ur-
sprunges als das Original der Niobiden. Und der Grieche verstand
das Schicksal der letztern auch ohne eine solche erklärende Zuthat,
welche nur zerstreuen konnte.


Eine an so vielen Idealbildungen grossgewachsene Kunst wie die
griechische war, konnte auch Bildnisse schaffen wie keine andere.
Sie gab dieselben im höchsten Sinne historisch, indem sie die zu-
fälligen Züge den wesentlichen unterordnete oder wegliess, indem sie
den Charakter des ganzen Menschen ergründete und von diesem aus
den ganzen Menschen wieder belebte, nicht wie er wirklich war, son-
dern wie er nach dem geistigen Kern seines Wesens hätte sein müs-
sen. Allerdings gehörten hiezu auch griechische Aufgaben: ausge-
zeichnete Männer und Helden, welchen von Staatswegen oder von
bewundernden Privatleuten Statuen gesetzt wurden. Aus solchen
Einzelgestalten konnten wahre Typen für jede erhöhte Menschendar-
stellung werden, und in der That hat die Kunst sich noch lange an
diese Motive höchsten Ranges gehalten und sie bisweilen auf viel
spätere Menschen übergetragen.

Wir betrachten zunächst die ganzen Statuen, deren in Italien
eine bedeutende Anzahl erhalten ist. Der Streit über die Namen-
gebung berührt uns nicht, sobald wir im einzelnen Falle sicher sind,
das Standbild eines berühmten Griechen vor uns zu haben. Einigen
der betreffenden Werke liegen überdiess erweislich gar keine bei Leb-
zeiten gemachten Bildnisse zu Grunde, sodass die Kunst den ganzen
Charakter aus eigenen Mitteln schaffen musste; bei noch mehrern
lässt sich diess wenigstens vermuthen.

Antike Sculptur. Bildnisse.
Zügen gegebenen Ausdruck des Momentes. Zwei davon sind in dop-
pelten Exemplaren aufgestellt.

Die vorgeschlagene Zusammenstellung der Niobiden mit dem Apoll
vom Belvedere und der Diana von Versailles kann nur befangenen
Gemüthern zusagen. Beide sind ihrem Typus nach viel spätern Ur-
sprunges als das Original der Niobiden. Und der Grieche verstand
das Schicksal der letztern auch ohne eine solche erklärende Zuthat,
welche nur zerstreuen konnte.


Eine an so vielen Idealbildungen grossgewachsene Kunst wie die
griechische war, konnte auch Bildnisse schaffen wie keine andere.
Sie gab dieselben im höchsten Sinne historisch, indem sie die zu-
fälligen Züge den wesentlichen unterordnete oder wegliess, indem sie
den Charakter des ganzen Menschen ergründete und von diesem aus
den ganzen Menschen wieder belebte, nicht wie er wirklich war, son-
dern wie er nach dem geistigen Kern seines Wesens hätte sein müs-
sen. Allerdings gehörten hiezu auch griechische Aufgaben: ausge-
zeichnete Männer und Helden, welchen von Staatswegen oder von
bewundernden Privatleuten Statuen gesetzt wurden. Aus solchen
Einzelgestalten konnten wahre Typen für jede erhöhte Menschendar-
stellung werden, und in der That hat die Kunst sich noch lange an
diese Motive höchsten Ranges gehalten und sie bisweilen auf viel
spätere Menschen übergetragen.

Wir betrachten zunächst die ganzen Statuen, deren in Italien
eine bedeutende Anzahl erhalten ist. Der Streit über die Namen-
gebung berührt uns nicht, sobald wir im einzelnen Falle sicher sind,
das Standbild eines berühmten Griechen vor uns zu haben. Einigen
der betreffenden Werke liegen überdiess erweislich gar keine bei Leb-
zeiten gemachten Bildnisse zu Grunde, sodass die Kunst den ganzen
Charakter aus eigenen Mitteln schaffen musste; bei noch mehrern
lässt sich diess wenigstens vermuthen.

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[508/0530] Antike Sculptur. Bildnisse. Zügen gegebenen Ausdruck des Momentes. Zwei davon sind in dop- pelten Exemplaren aufgestellt. Die vorgeschlagene Zusammenstellung der Niobiden mit dem Apoll vom Belvedere und der Diana von Versailles kann nur befangenen Gemüthern zusagen. Beide sind ihrem Typus nach viel spätern Ur- sprunges als das Original der Niobiden. Und der Grieche verstand das Schicksal der letztern auch ohne eine solche erklärende Zuthat, welche nur zerstreuen konnte. Eine an so vielen Idealbildungen grossgewachsene Kunst wie die griechische war, konnte auch Bildnisse schaffen wie keine andere. Sie gab dieselben im höchsten Sinne historisch, indem sie die zu- fälligen Züge den wesentlichen unterordnete oder wegliess, indem sie den Charakter des ganzen Menschen ergründete und von diesem aus den ganzen Menschen wieder belebte, nicht wie er wirklich war, son- dern wie er nach dem geistigen Kern seines Wesens hätte sein müs- sen. Allerdings gehörten hiezu auch griechische Aufgaben: ausge- zeichnete Männer und Helden, welchen von Staatswegen oder von bewundernden Privatleuten Statuen gesetzt wurden. Aus solchen Einzelgestalten konnten wahre Typen für jede erhöhte Menschendar- stellung werden, und in der That hat die Kunst sich noch lange an diese Motive höchsten Ranges gehalten und sie bisweilen auf viel spätere Menschen übergetragen. Wir betrachten zunächst die ganzen Statuen, deren in Italien eine bedeutende Anzahl erhalten ist. Der Streit über die Namen- gebung berührt uns nicht, sobald wir im einzelnen Falle sicher sind, das Standbild eines berühmten Griechen vor uns zu haben. Einigen der betreffenden Werke liegen überdiess erweislich gar keine bei Leb- zeiten gemachten Bildnisse zu Grunde, sodass die Kunst den ganzen Charakter aus eigenen Mitteln schaffen musste; bei noch mehrern lässt sich diess wenigstens vermuthen.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/530>, abgerufen am 02.06.2024.