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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Gruppen.
(in dem Exemplar welchem das vaticanische Fragment angehört, eine
an seinem Knie niedergesunkene Schwester schützend); -- von den
Töchtern ist mit Ausnahme der genannten keine in der Arbeit mit der
verstümmelten laufenden Statue des Museo Chiaramonti (S. 305, d) zu
vergleichen und zwei oder drei sind ganz gering, was auch von der
Ausführung in mehrern Söhnen gilt. Der Pädagog ist eine nicht zu
verachtende römische Arbeit, nur unangenehm restaurirt. Der sog.
Narciss ist mit Recht in neuerer Zeit der Sammlung als verwundeter
Niobide beigesellt worden. Vom todten Sohn ist in München ein noch
besseres Exemplar.

Wenn nun vielleicht an keiner der florentinischen Statuen ein
griechischer Meissel gearbeitet hat, so sind sie doch von grossem und
bleibendem Werthe. Das überaus grandiose Motiv der Mutter ver-
einigt die höchste Gewalt des Momentanen mit der grössten Schön-
heit der Darstellung; sie flieht, schützt und fleht; das Heraufziehen
des Gewandes mit der Linken, so erfolglos es gegen Göttergeschosse
sein mag, ist gerade als unwillkürliche Bewegung so sprechend.
(Diese Theile ergänzt, aber richtig.) Die ganze Gewandung, noch in
der Nachbildung vorzüglich, muss im Urbild von einer Herrlichkeit
gewesen sein, die vielleicht keine Antike unter den vorhandenen wie-
dergiebt; hier ist Alles Bewegung und doch kein Flattern; der herr-
lichste Körper drückt sich darin aus. Den Kopf geniesst man besser
in Einzelabgüssen. (Vielleicht wird bisweilen mehr hineinphantasirt
als in diesem Exemplare wirklich ist.) -- Nach der Mutter wird man
wohl dem Sohne mit dem Gewand über dem Haupt den Preis geben.

Einer genauen Beachtung ist der Typus werth, welcher in diesen
Gestalten durchgeführt ist. Mutter und Töchter, soweit ihre Köpfe
echt sind, haben diejenige grossartige, reife Schönheit, welche sich
der siegreichen, auch wohl der knidischen Aphrodite nähert; selbst
die jugendlichsten zeigen einen matronalen Anflug, wovon man sich
durch Vergleichung mit der mediceischen Venus leicht überzeugen
kann; es ist das frühere Schönheitsideal der griechischen Kunst über-
haupt, welches sich zu erkennen giebt. -- Die Söhne sind gemässigt
athletisch gebildet und ihr Gesichtstypus steht zu demjenigen des
Hermes in einem ähnlichen Verhältniss wie der mehrerer jugendlicher
Athleten, abgesehen von dem zum Theil meisterhaft mit wenigen

Antike Sculptur. Gruppen.
(in dem Exemplar welchem das vaticanische Fragment angehört, eine
an seinem Knie niedergesunkene Schwester schützend); — von den
Töchtern ist mit Ausnahme der genannten keine in der Arbeit mit der
verstümmelten laufenden Statue des Museo Chiaramonti (S. 305, d) zu
vergleichen und zwei oder drei sind ganz gering, was auch von der
Ausführung in mehrern Söhnen gilt. Der Pädagog ist eine nicht zu
verachtende römische Arbeit, nur unangenehm restaurirt. Der sog.
Narciss ist mit Recht in neuerer Zeit der Sammlung als verwundeter
Niobide beigesellt worden. Vom todten Sohn ist in München ein noch
besseres Exemplar.

Wenn nun vielleicht an keiner der florentinischen Statuen ein
griechischer Meissel gearbeitet hat, so sind sie doch von grossem und
bleibendem Werthe. Das überaus grandiose Motiv der Mutter ver-
einigt die höchste Gewalt des Momentanen mit der grössten Schön-
heit der Darstellung; sie flieht, schützt und fleht; das Heraufziehen
des Gewandes mit der Linken, so erfolglos es gegen Göttergeschosse
sein mag, ist gerade als unwillkürliche Bewegung so sprechend.
(Diese Theile ergänzt, aber richtig.) Die ganze Gewandung, noch in
der Nachbildung vorzüglich, muss im Urbild von einer Herrlichkeit
gewesen sein, die vielleicht keine Antike unter den vorhandenen wie-
dergiebt; hier ist Alles Bewegung und doch kein Flattern; der herr-
lichste Körper drückt sich darin aus. Den Kopf geniesst man besser
in Einzelabgüssen. (Vielleicht wird bisweilen mehr hineinphantasirt
als in diesem Exemplare wirklich ist.) — Nach der Mutter wird man
wohl dem Sohne mit dem Gewand über dem Haupt den Preis geben.

Einer genauen Beachtung ist der Typus werth, welcher in diesen
Gestalten durchgeführt ist. Mutter und Töchter, soweit ihre Köpfe
echt sind, haben diejenige grossartige, reife Schönheit, welche sich
der siegreichen, auch wohl der knidischen Aphrodite nähert; selbst
die jugendlichsten zeigen einen matronalen Anflug, wovon man sich
durch Vergleichung mit der mediceischen Venus leicht überzeugen
kann; es ist das frühere Schönheitsideal der griechischen Kunst über-
haupt, welches sich zu erkennen giebt. — Die Söhne sind gemässigt
athletisch gebildet und ihr Gesichtstypus steht zu demjenigen des
Hermes in einem ähnlichen Verhältniss wie der mehrerer jugendlicher
Athleten, abgesehen von dem zum Theil meisterhaft mit wenigen

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[507/0529] Antike Sculptur. Gruppen. (in dem Exemplar welchem das vaticanische Fragment angehört, eine an seinem Knie niedergesunkene Schwester schützend); — von den Töchtern ist mit Ausnahme der genannten keine in der Arbeit mit der verstümmelten laufenden Statue des Museo Chiaramonti (S. 305, d) zu vergleichen und zwei oder drei sind ganz gering, was auch von der Ausführung in mehrern Söhnen gilt. Der Pädagog ist eine nicht zu verachtende römische Arbeit, nur unangenehm restaurirt. Der sog. Narciss ist mit Recht in neuerer Zeit der Sammlung als verwundeter Niobide beigesellt worden. Vom todten Sohn ist in München ein noch besseres Exemplar. Wenn nun vielleicht an keiner der florentinischen Statuen ein griechischer Meissel gearbeitet hat, so sind sie doch von grossem und bleibendem Werthe. Das überaus grandiose Motiv der Mutter ver- einigt die höchste Gewalt des Momentanen mit der grössten Schön- heit der Darstellung; sie flieht, schützt und fleht; das Heraufziehen des Gewandes mit der Linken, so erfolglos es gegen Göttergeschosse sein mag, ist gerade als unwillkürliche Bewegung so sprechend. (Diese Theile ergänzt, aber richtig.) Die ganze Gewandung, noch in der Nachbildung vorzüglich, muss im Urbild von einer Herrlichkeit gewesen sein, die vielleicht keine Antike unter den vorhandenen wie- dergiebt; hier ist Alles Bewegung und doch kein Flattern; der herr- lichste Körper drückt sich darin aus. Den Kopf geniesst man besser in Einzelabgüssen. (Vielleicht wird bisweilen mehr hineinphantasirt als in diesem Exemplare wirklich ist.) — Nach der Mutter wird man wohl dem Sohne mit dem Gewand über dem Haupt den Preis geben. Einer genauen Beachtung ist der Typus werth, welcher in diesen Gestalten durchgeführt ist. Mutter und Töchter, soweit ihre Köpfe echt sind, haben diejenige grossartige, reife Schönheit, welche sich der siegreichen, auch wohl der knidischen Aphrodite nähert; selbst die jugendlichsten zeigen einen matronalen Anflug, wovon man sich durch Vergleichung mit der mediceischen Venus leicht überzeugen kann; es ist das frühere Schönheitsideal der griechischen Kunst über- haupt, welches sich zu erkennen giebt. — Die Söhne sind gemässigt athletisch gebildet und ihr Gesichtstypus steht zu demjenigen des Hermes in einem ähnlichen Verhältniss wie der mehrerer jugendlicher Athleten, abgesehen von dem zum Theil meisterhaft mit wenigen

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/529>, abgerufen am 16.07.2024.