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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Ariadne.
blickende Haupt, mit einem Ausdruck süssester Melancholie, den
wohl kein Marmorbild des Gottes so wiedergiebt.


In den Reliefs, auch an Sarcophagen, wo man den Gott in den
verschiedensten Stellungen und Handlungen kennen lernt, erscheint er
nicht selten mit der von ihm geretteten Ariadne, welche, einmal in
seinen Kreis aufgenommen, nur ihm ähnlich gebildet werden konnte.
Selbständige Statuen dieser dionysischen Ariadne kommen wohl
nicht vor, doch hat man einen der schönsten Köpfe des Alterthums
(im Museo capitolino, Zimmer des sterbenden Fechters) langea
Zeit so benannt, bis neuere Forscher darin einen ganz jugendlichen
Dionysos zu erkennen glaubten. Wie dem auch sei, Augen, Wangen
und Mund dieses Werkes geben gerade das Schönste und Süsseste
der bacchischen Bildung, die Verlorenheit in sanfter Wonne, mit einer
unbeschreiblichen Leichtigkeit wieder. Im anstossenden Faunszimmerb
findet sich ein geringerer, doch noch immer schöner Kopf, bei welchem
man ebenfalls über die Benennung im Zweifel bleiben kann. (Die
Augen zur Ausfüllung mit irgend einer andern Steinart bestimmt, wie
an vielen Köpfen.)

Die schöne Statue, welche in den Uffizien zu Florenz (ersterc
Gang) Ariadne heisst, hat einen antiken bacchischen, ihr aber nicht
angehörenden Kopf; der Leib möchte vielleicht der einer Muse gewesen
sein. Ihre fast verticale linke Seite zeigt zwei Ansätze; sie muss sich
auf Etwas gelehnt haben. (Beide Arme sind wegzudenken.)


Von derjenigen Stimmung, welche in Dionysos rein und göttlich
waltet, gehen die einzelnen Äusserungen wie Radien in die Personen
seines Gefolges aus. Es ist die Naturfreude auf allen ihren Stufen,
je nach der edlern oder gemeinern Art des Einzelnen. Man muss sich
diesen "Thiasos" immer als Ganzes, als Zug oder Scene denken, wie
er in mehrern ganz trefflichen Reliefs und sehr vielen meist mittel-
guten oder geringen Sarcophagbildern, auch auf vielen Vasen sich
stückweise darstellt. Allein schon die Kunst der besten Zeit, schon
Meister wie Praxiteles haben die einzelnen Gestalten dieses Ganzen

Ariadne.
blickende Haupt, mit einem Ausdruck süssester Melancholie, den
wohl kein Marmorbild des Gottes so wiedergiebt.


In den Reliefs, auch an Sarcophagen, wo man den Gott in den
verschiedensten Stellungen und Handlungen kennen lernt, erscheint er
nicht selten mit der von ihm geretteten Ariadne, welche, einmal in
seinen Kreis aufgenommen, nur ihm ähnlich gebildet werden konnte.
Selbständige Statuen dieser dionysischen Ariadne kommen wohl
nicht vor, doch hat man einen der schönsten Köpfe des Alterthums
(im Museo capitolino, Zimmer des sterbenden Fechters) langea
Zeit so benannt, bis neuere Forscher darin einen ganz jugendlichen
Dionysos zu erkennen glaubten. Wie dem auch sei, Augen, Wangen
und Mund dieses Werkes geben gerade das Schönste und Süsseste
der bacchischen Bildung, die Verlorenheit in sanfter Wonne, mit einer
unbeschreiblichen Leichtigkeit wieder. Im anstossenden Faunszimmerb
findet sich ein geringerer, doch noch immer schöner Kopf, bei welchem
man ebenfalls über die Benennung im Zweifel bleiben kann. (Die
Augen zur Ausfüllung mit irgend einer andern Steinart bestimmt, wie
an vielen Köpfen.)

Die schöne Statue, welche in den Uffizien zu Florenz (ersterc
Gang) Ariadne heisst, hat einen antiken bacchischen, ihr aber nicht
angehörenden Kopf; der Leib möchte vielleicht der einer Muse gewesen
sein. Ihre fast verticale linke Seite zeigt zwei Ansätze; sie muss sich
auf Etwas gelehnt haben. (Beide Arme sind wegzudenken.)


Von derjenigen Stimmung, welche in Dionysos rein und göttlich
waltet, gehen die einzelnen Äusserungen wie Radien in die Personen
seines Gefolges aus. Es ist die Naturfreude auf allen ihren Stufen,
je nach der edlern oder gemeinern Art des Einzelnen. Man muss sich
diesen „Thiasos“ immer als Ganzes, als Zug oder Scene denken, wie
er in mehrern ganz trefflichen Reliefs und sehr vielen meist mittel-
guten oder geringen Sarcophagbildern, auch auf vielen Vasen sich
stückweise darstellt. Allein schon die Kunst der besten Zeit, schon
Meister wie Praxiteles haben die einzelnen Gestalten dieses Ganzen

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[473/0495] Ariadne. blickende Haupt, mit einem Ausdruck süssester Melancholie, den wohl kein Marmorbild des Gottes so wiedergiebt. In den Reliefs, auch an Sarcophagen, wo man den Gott in den verschiedensten Stellungen und Handlungen kennen lernt, erscheint er nicht selten mit der von ihm geretteten Ariadne, welche, einmal in seinen Kreis aufgenommen, nur ihm ähnlich gebildet werden konnte. Selbständige Statuen dieser dionysischen Ariadne kommen wohl nicht vor, doch hat man einen der schönsten Köpfe des Alterthums (im Museo capitolino, Zimmer des sterbenden Fechters) lange Zeit so benannt, bis neuere Forscher darin einen ganz jugendlichen Dionysos zu erkennen glaubten. Wie dem auch sei, Augen, Wangen und Mund dieses Werkes geben gerade das Schönste und Süsseste der bacchischen Bildung, die Verlorenheit in sanfter Wonne, mit einer unbeschreiblichen Leichtigkeit wieder. Im anstossenden Faunszimmer findet sich ein geringerer, doch noch immer schöner Kopf, bei welchem man ebenfalls über die Benennung im Zweifel bleiben kann. (Die Augen zur Ausfüllung mit irgend einer andern Steinart bestimmt, wie an vielen Köpfen.) a b Die schöne Statue, welche in den Uffizien zu Florenz (erster Gang) Ariadne heisst, hat einen antiken bacchischen, ihr aber nicht angehörenden Kopf; der Leib möchte vielleicht der einer Muse gewesen sein. Ihre fast verticale linke Seite zeigt zwei Ansätze; sie muss sich auf Etwas gelehnt haben. (Beide Arme sind wegzudenken.) c Von derjenigen Stimmung, welche in Dionysos rein und göttlich waltet, gehen die einzelnen Äusserungen wie Radien in die Personen seines Gefolges aus. Es ist die Naturfreude auf allen ihren Stufen, je nach der edlern oder gemeinern Art des Einzelnen. Man muss sich diesen „Thiasos“ immer als Ganzes, als Zug oder Scene denken, wie er in mehrern ganz trefflichen Reliefs und sehr vielen meist mittel- guten oder geringen Sarcophagbildern, auch auf vielen Vasen sich stückweise darstellt. Allein schon die Kunst der besten Zeit, schon Meister wie Praxiteles haben die einzelnen Gestalten dieses Ganzen

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/495>, abgerufen am 16.07.2024.