wenn das mechanische Bewusstsein sich dabei beruhigt hätte, so hätten Auge und innerer Sinn sich nicht zufrieden gegeben.
Unter den Knabengestalten nimmt Eros die erste Stelle ein. Wir kennen ihn als Statue nur unter demjenigen Typus, welchen ihm die vollendete griechische Kunst des IV. Jahrhunderts verlieh und welche die Folgezeit wiederholte.
Eine der anmuthigsten Darstellungen, vielleicht nach Lysippos, welche den jugendlichen Körper in leichter Anstrengung zeigt, der sog. bogenspannende Eros, ist leider nur in entweder sehr zer- stückten oder bloss mittelgut gearbeiteten Exemplaren auf unsere Zeit agelangt. Die beste Arbeit zeigt in seinen alten Fragmenten der va- bticanische (Museo Chiaramonti); dann folgt derjenige im runden Saal cder Villa Albani und derjenige in der obern Galerie des Museo ca- dpitolino. Der besterhaltene im Dogenpalast zu Venedig, Camera a letto; der Kopf eine antike Restauration. Trotz dieser Mehrzahl vor- handener Copien kann man über das ursprüngliche Motiv einige Zweifel hegen. (Neuerlich als "bogenprüfender Amor" bezeichnet.)
Diesem kindlich schalkhaften Schützen steht ein jugendlicher Gott der Liebe gegenüber. Ungleich ernster und in den Formen entwickel- ter erscheint nämlich Eros, offenbar nach Praxiteles, in dem vatica- enischen Torso (Galeria delle statue, früher als "vaticanischer Genius" benannt). Das schmale Haupt, mit den zusammengewun- denen Locken über der Stirn, drückt eine Sehnsucht aus, die sich weder in das Schmachtende noch in die Trauer verliert, sondern eben in ihrer ruhigen Mitte das Wesen dieses Gottes ausmacht. Die Formen des Körpers sind von einer jugendlichen Schönheit, die für die Sculptur massgebend geworden ist. (Am Rücken die Ansätze für die Flügel. fEin geringeres, aber bis an die Kniee erhaltenes Exemplar im Mu- seum von Neapel, Halle des Adonis).
g
Die schöne Statue, welche in den Uffizien zu Florenz (Halle des Hermaphr.) "der Todesgenius" heisst, aber als Eros restaurirt ist, vereinigt die frühe Jugend des bogenspannenden Eros mit einem Ausdruck des Ernstes ohne Sehnsucht. Er blickt nicht "hinaus", son- dern links abwärts und hält die rechte Hand auf die linke Schulter.
Antike Sculptur. Eros.
wenn das mechanische Bewusstsein sich dabei beruhigt hätte, so hätten Auge und innerer Sinn sich nicht zufrieden gegeben.
Unter den Knabengestalten nimmt Eros die erste Stelle ein. Wir kennen ihn als Statue nur unter demjenigen Typus, welchen ihm die vollendete griechische Kunst des IV. Jahrhunderts verlieh und welche die Folgezeit wiederholte.
Eine der anmuthigsten Darstellungen, vielleicht nach Lysippos, welche den jugendlichen Körper in leichter Anstrengung zeigt, der sog. bogenspannende Eros, ist leider nur in entweder sehr zer- stückten oder bloss mittelgut gearbeiteten Exemplaren auf unsere Zeit agelangt. Die beste Arbeit zeigt in seinen alten Fragmenten der va- bticanische (Museo Chiaramonti); dann folgt derjenige im runden Saal cder Villa Albani und derjenige in der obern Galerie des Museo ca- dpitolino. Der besterhaltene im Dogenpalast zu Venedig, Camera a letto; der Kopf eine antike Restauration. Trotz dieser Mehrzahl vor- handener Copien kann man über das ursprüngliche Motiv einige Zweifel hegen. (Neuerlich als „bogenprüfender Amor“ bezeichnet.)
Diesem kindlich schalkhaften Schützen steht ein jugendlicher Gott der Liebe gegenüber. Ungleich ernster und in den Formen entwickel- ter erscheint nämlich Eros, offenbar nach Praxiteles, in dem vatica- enischen Torso (Galeria delle statue, früher als „vaticanischer Genius“ benannt). Das schmale Haupt, mit den zusammengewun- denen Locken über der Stirn, drückt eine Sehnsucht aus, die sich weder in das Schmachtende noch in die Trauer verliert, sondern eben in ihrer ruhigen Mitte das Wesen dieses Gottes ausmacht. Die Formen des Körpers sind von einer jugendlichen Schönheit, die für die Sculptur massgebend geworden ist. (Am Rücken die Ansätze für die Flügel. fEin geringeres, aber bis an die Kniee erhaltenes Exemplar im Mu- seum von Neapel, Halle des Adonis).
g
Die schöne Statue, welche in den Uffizien zu Florenz (Halle des Hermaphr.) „der Todesgenius“ heisst, aber als Eros restaurirt ist, vereinigt die frühe Jugend des bogenspannenden Eros mit einem Ausdruck des Ernstes ohne Sehnsucht. Er blickt nicht „hinaus“, son- dern links abwärts und hält die rechte Hand auf die linke Schulter.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0490"n="468"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Antike Sculptur. Eros.</hi></fw><lb/>
wenn das mechanische Bewusstsein sich dabei beruhigt hätte, so hätten<lb/>
Auge und innerer Sinn sich nicht zufrieden gegeben.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Unter den Knabengestalten nimmt <hirendition="#g">Eros</hi> die erste Stelle ein.<lb/>
Wir kennen ihn als Statue nur unter demjenigen Typus, welchen ihm<lb/>
die vollendete griechische Kunst des IV. Jahrhunderts verlieh und<lb/>
welche die Folgezeit wiederholte.</p><lb/><p>Eine der anmuthigsten Darstellungen, vielleicht nach Lysippos,<lb/>
welche den jugendlichen Körper in leichter Anstrengung zeigt, der<lb/>
sog. <hirendition="#g">bogenspannende Eros</hi>, ist leider nur in entweder sehr zer-<lb/>
stückten oder bloss mittelgut gearbeiteten Exemplaren auf unsere Zeit<lb/><noteplace="left">a</note>gelangt. Die beste Arbeit zeigt in seinen alten Fragmenten der va-<lb/><noteplace="left">b</note>ticanische (Museo Chiaramonti); dann folgt derjenige im runden Saal<lb/><noteplace="left">c</note>der Villa Albani und derjenige in der obern Galerie des Museo ca-<lb/><noteplace="left">d</note>pitolino. Der besterhaltene im Dogenpalast zu Venedig, Camera a<lb/>
letto; der Kopf eine antike Restauration. Trotz dieser Mehrzahl vor-<lb/>
handener Copien kann man über das ursprüngliche Motiv einige<lb/>
Zweifel hegen. (Neuerlich als „bogenprüfender Amor“ bezeichnet.)</p><lb/><p>Diesem kindlich schalkhaften Schützen steht ein jugendlicher Gott<lb/>
der Liebe gegenüber. Ungleich ernster und in den Formen entwickel-<lb/>
ter erscheint nämlich Eros, offenbar nach Praxiteles, in dem vatica-<lb/><noteplace="left">e</note>nischen Torso (Galeria delle statue, früher als „<hirendition="#g">vaticanischer<lb/>
Genius</hi>“ benannt). Das schmale Haupt, mit den zusammengewun-<lb/>
denen Locken über der Stirn, drückt eine Sehnsucht aus, die sich<lb/>
weder in das Schmachtende noch in die Trauer verliert, sondern eben<lb/>
in ihrer ruhigen Mitte das Wesen dieses Gottes ausmacht. Die Formen<lb/>
des Körpers sind von einer jugendlichen Schönheit, die für die Sculptur<lb/>
massgebend geworden ist. (Am Rücken die Ansätze für die Flügel.<lb/><noteplace="left">f</note>Ein geringeres, aber bis an die Kniee erhaltenes Exemplar im Mu-<lb/>
seum von Neapel, Halle des Adonis).</p><lb/><noteplace="left">g</note><p>Die schöne Statue, welche in den Uffizien zu Florenz (Halle des<lb/>
Hermaphr.) „<hirendition="#g">der Todesgenius</hi>“ heisst, aber als Eros restaurirt<lb/>
ist, vereinigt die frühe Jugend des bogenspannenden Eros mit einem<lb/>
Ausdruck des Ernstes ohne Sehnsucht. Er blickt nicht „hinaus“, son-<lb/>
dern links abwärts und hält die rechte Hand auf die linke Schulter.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[468/0490]
Antike Sculptur. Eros.
wenn das mechanische Bewusstsein sich dabei beruhigt hätte, so hätten
Auge und innerer Sinn sich nicht zufrieden gegeben.
Unter den Knabengestalten nimmt Eros die erste Stelle ein.
Wir kennen ihn als Statue nur unter demjenigen Typus, welchen ihm
die vollendete griechische Kunst des IV. Jahrhunderts verlieh und
welche die Folgezeit wiederholte.
Eine der anmuthigsten Darstellungen, vielleicht nach Lysippos,
welche den jugendlichen Körper in leichter Anstrengung zeigt, der
sog. bogenspannende Eros, ist leider nur in entweder sehr zer-
stückten oder bloss mittelgut gearbeiteten Exemplaren auf unsere Zeit
gelangt. Die beste Arbeit zeigt in seinen alten Fragmenten der va-
ticanische (Museo Chiaramonti); dann folgt derjenige im runden Saal
der Villa Albani und derjenige in der obern Galerie des Museo ca-
pitolino. Der besterhaltene im Dogenpalast zu Venedig, Camera a
letto; der Kopf eine antike Restauration. Trotz dieser Mehrzahl vor-
handener Copien kann man über das ursprüngliche Motiv einige
Zweifel hegen. (Neuerlich als „bogenprüfender Amor“ bezeichnet.)
a
b
c
d
Diesem kindlich schalkhaften Schützen steht ein jugendlicher Gott
der Liebe gegenüber. Ungleich ernster und in den Formen entwickel-
ter erscheint nämlich Eros, offenbar nach Praxiteles, in dem vatica-
nischen Torso (Galeria delle statue, früher als „vaticanischer
Genius“ benannt). Das schmale Haupt, mit den zusammengewun-
denen Locken über der Stirn, drückt eine Sehnsucht aus, die sich
weder in das Schmachtende noch in die Trauer verliert, sondern eben
in ihrer ruhigen Mitte das Wesen dieses Gottes ausmacht. Die Formen
des Körpers sind von einer jugendlichen Schönheit, die für die Sculptur
massgebend geworden ist. (Am Rücken die Ansätze für die Flügel.
Ein geringeres, aber bis an die Kniee erhaltenes Exemplar im Mu-
seum von Neapel, Halle des Adonis).
e
f
Die schöne Statue, welche in den Uffizien zu Florenz (Halle des
Hermaphr.) „der Todesgenius“ heisst, aber als Eros restaurirt
ist, vereinigt die frühe Jugend des bogenspannenden Eros mit einem
Ausdruck des Ernstes ohne Sehnsucht. Er blickt nicht „hinaus“, son-
dern links abwärts und hält die rechte Hand auf die linke Schulter.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/490>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.