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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Artemis.
indess auch bei den Aphroditenbildern von der knidischen abwärts
zur Regel wurde.)

Der andere Typus, der sich viel enger an den des Apoll an-
schliesst, musste da entstehen, wo die Geschwister als zusammenge-
hörig dargestellt oder gedacht wurden, also bei ihrem gemeinsamen
Kampf, z. B. gegen die Niobiden. So ist das getreue Gegenstück zum
Apoll von Belvedere die Diana von Versailles (im Louvre) dem Bru-
der dermassen entsprechend gebildet, dass man an einer Zusammen-
gehörigkeit beider kaum zweifeln mag. Ausser den sehr schlanken
Verhältnissen hat die Göttin mit ihm hier auch den Ausdruck des
Unwillens gemein, der in dem schmalen weiblichen Kopfe sich fast
zu scharf und höhnisch ausspricht; ihre nicht menschlich ungestüme,
sondern übermenschlich unaufhaltsame Bewegung zeigt, dass sie erst
zum Kampf oder zur Jagd eilt, während Apoll seinen siegreichen Pfeil
schon entsandt hat. Von den italienischen Sammlungen enthält das
Museum von Neapel (grosse Bronzen) den Oberleib einer Diana, welchea
zu dem ebendort aufgestellten laufenden Apoll (S. 443, a) gehörte und
zugleich stark an die Statue des Louvre erinnert.

Als Lichtbringende (lucifera), als Luna (Selene) erscheint Diana
in der Regel ganz bekleidet 1) mit (meist restaurirten) Fackeln in den
Händen. (In der körperlichen Bildung bald mehr dem erstgenannten
bald mehr dem letztgenannten Typus entsprechend.) Die Kunst bemühte
sich hier, das Eilige und Leichte des Schrittes in einem reichen, rau-
schend bewegten Gewande auszudrücken. Wir besitzen von zwei ge-
wiss sehr vorzüglichen Originalen, einem stark ausschreitenden und
einem in kleinen Schritten gleichsam schwebenden, nur Nachbildungen
von bedingtem Werthe. Statuen im Museo Chiaramonti und im Ga-b
binetto delle Maschere des Vaticans; die letztere mit einem ähnlichenc
fast bittern Ausdruck, wie die Tödterin der Niobiden; die reichen
Haare nicht aufwärts gebunden, sondern offen zurückwallend. -- Eine
wirklich schwebende (auf einem zurücktretenden Tronco ruhend) imd
Kaffehaus der Villa Albani; ihr Kopf vom ernst-lieblichen Typus.
Eine schlecht restaurirte Schreitende im Pal. Riccardi zu Florenz (Vor-e
zimmer der Acad. della Crusca).

1) So schon in der ihres Werthes halber zuerst genannten Diana des Braccio
nuovo, welche ja als Selene gedacht ist.

Artemis.
indess auch bei den Aphroditenbildern von der knidischen abwärts
zur Regel wurde.)

Der andere Typus, der sich viel enger an den des Apoll an-
schliesst, musste da entstehen, wo die Geschwister als zusammenge-
hörig dargestellt oder gedacht wurden, also bei ihrem gemeinsamen
Kampf, z. B. gegen die Niobiden. So ist das getreue Gegenstück zum
Apoll von Belvedere die Diana von Versailles (im Louvre) dem Bru-
der dermassen entsprechend gebildet, dass man an einer Zusammen-
gehörigkeit beider kaum zweifeln mag. Ausser den sehr schlanken
Verhältnissen hat die Göttin mit ihm hier auch den Ausdruck des
Unwillens gemein, der in dem schmalen weiblichen Kopfe sich fast
zu scharf und höhnisch ausspricht; ihre nicht menschlich ungestüme,
sondern übermenschlich unaufhaltsame Bewegung zeigt, dass sie erst
zum Kampf oder zur Jagd eilt, während Apoll seinen siegreichen Pfeil
schon entsandt hat. Von den italienischen Sammlungen enthält das
Museum von Neapel (grosse Bronzen) den Oberleib einer Diana, welchea
zu dem ebendort aufgestellten laufenden Apoll (S. 443, a) gehörte und
zugleich stark an die Statue des Louvre erinnert.

Als Lichtbringende (lucifera), als Luna (Selene) erscheint Diana
in der Regel ganz bekleidet 1) mit (meist restaurirten) Fackeln in den
Händen. (In der körperlichen Bildung bald mehr dem erstgenannten
bald mehr dem letztgenannten Typus entsprechend.) Die Kunst bemühte
sich hier, das Eilige und Leichte des Schrittes in einem reichen, rau-
schend bewegten Gewande auszudrücken. Wir besitzen von zwei ge-
wiss sehr vorzüglichen Originalen, einem stark ausschreitenden und
einem in kleinen Schritten gleichsam schwebenden, nur Nachbildungen
von bedingtem Werthe. Statuen im Museo Chiaramonti und im Ga-b
binetto delle Maschere des Vaticans; die letztere mit einem ähnlichenc
fast bittern Ausdruck, wie die Tödterin der Niobiden; die reichen
Haare nicht aufwärts gebunden, sondern offen zurückwallend. — Eine
wirklich schwebende (auf einem zurücktretenden Tronco ruhend) imd
Kaffehaus der Villa Albani; ihr Kopf vom ernst-lieblichen Typus.
Eine schlecht restaurirte Schreitende im Pal. Riccardi zu Florenz (Vor-e
zimmer der Acad. della Crusca).

1) So schon in der ihres Werthes halber zuerst genannten Diana des Braccio
nuovo, welche ja als Selene gedacht ist.
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[447/0469] Artemis. indess auch bei den Aphroditenbildern von der knidischen abwärts zur Regel wurde.) Der andere Typus, der sich viel enger an den des Apoll an- schliesst, musste da entstehen, wo die Geschwister als zusammenge- hörig dargestellt oder gedacht wurden, also bei ihrem gemeinsamen Kampf, z. B. gegen die Niobiden. So ist das getreue Gegenstück zum Apoll von Belvedere die Diana von Versailles (im Louvre) dem Bru- der dermassen entsprechend gebildet, dass man an einer Zusammen- gehörigkeit beider kaum zweifeln mag. Ausser den sehr schlanken Verhältnissen hat die Göttin mit ihm hier auch den Ausdruck des Unwillens gemein, der in dem schmalen weiblichen Kopfe sich fast zu scharf und höhnisch ausspricht; ihre nicht menschlich ungestüme, sondern übermenschlich unaufhaltsame Bewegung zeigt, dass sie erst zum Kampf oder zur Jagd eilt, während Apoll seinen siegreichen Pfeil schon entsandt hat. Von den italienischen Sammlungen enthält das Museum von Neapel (grosse Bronzen) den Oberleib einer Diana, welche zu dem ebendort aufgestellten laufenden Apoll (S. 443, a) gehörte und zugleich stark an die Statue des Louvre erinnert. a Als Lichtbringende (lucifera), als Luna (Selene) erscheint Diana in der Regel ganz bekleidet 1) mit (meist restaurirten) Fackeln in den Händen. (In der körperlichen Bildung bald mehr dem erstgenannten bald mehr dem letztgenannten Typus entsprechend.) Die Kunst bemühte sich hier, das Eilige und Leichte des Schrittes in einem reichen, rau- schend bewegten Gewande auszudrücken. Wir besitzen von zwei ge- wiss sehr vorzüglichen Originalen, einem stark ausschreitenden und einem in kleinen Schritten gleichsam schwebenden, nur Nachbildungen von bedingtem Werthe. Statuen im Museo Chiaramonti und im Ga- binetto delle Maschere des Vaticans; die letztere mit einem ähnlichen fast bittern Ausdruck, wie die Tödterin der Niobiden; die reichen Haare nicht aufwärts gebunden, sondern offen zurückwallend. — Eine wirklich schwebende (auf einem zurücktretenden Tronco ruhend) im Kaffehaus der Villa Albani; ihr Kopf vom ernst-lieblichen Typus. Eine schlecht restaurirte Schreitende im Pal. Riccardi zu Florenz (Vor- zimmer der Acad. della Crusca). b c d e 1) So schon in der ihres Werthes halber zuerst genannten Diana des Braccio nuovo, welche ja als Selene gedacht ist.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/469>, abgerufen am 29.06.2024.