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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Die Kirchenfassaden. Ihre Schwingung.
form 1) geschwungen wird. Das Auge hält, zumal beim Anblick von
der Seite, die Biegung für stärker als sie ist und setzt die ihm durch
Verschiebung unsichtbaren Theile reicher voraus als sie sind. Sodann ist
auch hier ein malerisches Princip thätig: dasjenige, die homogenen
Bauglieder, z. B. alle Fenstergiebel, alle Capitäle desselben Ranges
dem Beschauer auf den ersten Blick unter ganz verschiedenen Ge-
sichtspunkten vorzuführen, während die strengere Architektur ihre
Wirkung im geraden Gegentheil sucht. Ich weiss nicht, war es noth-
wendige Consequenz oder nicht, dass die Giebel ausser der Schwin-
gung nach aussen auch wieder eine nach oben annahmen, sodass ihr
Rand eine doppelt bedingte, meist ganz irrationelle Curve bildet; so
viel ist sicher, dass diese Form zu den abschreckendsten der ganzen
Baukunst gehört, zumal wenn die Giebel gebrochen sind. -- Es wird
damals theoretisch zugegeben, dass die runde Form unter allen Um-
ständen die schönste sei 2); ohne darauf zu achten, welche Vorbedin-
gungen die wahre Baukunst macht und machen muss.

Francesco Borromini ist für diese geschwungenen Fassaden
der berüchtigte Name geworden, obschon die übelsten Consequenzen
erst von der missverstehenden Willkür der Nachahmer gezogen wur-
den. Sein Kirchlein S. Carlo alle quattro fontane (1667) enthält ina
der That weder innen noch aussen andere gerade Linien als diejeni-
gen an den Fensterpfosten etc. -- An S. Marcello am Corso ist dieb
Fronte von Carlo Fontana; S. Luca von Pietro da Cortona;
S. Croce unweit vom Pantheon aus dem XVIII. Jahrhundert. -- Eine
Seite kann man diesen Fratzengebilden immerhin abgewinnen: sie sind
wenigstens wirkliche Architektur, können schöne und grossartige
Hauptverhältnisse darstellen und stellen sie bisweilen wirklich dar.
Dies wird man am Besten inne beim Anblick gleichzeitiger venezia-
nischer
Kirchenfassaden (S. Moise, Chiesa del Ricovero, S. Mariac
Zobenigo, Scalzi), welche zwar geradlinig aber keine Architektur mehr,

1) Ein werther Freund, den ich aus der Ferne herzlich grüsse, pflegte zu sagen,
solche Fassaden seien auf dem Ofen getrocknet.
2) Es ist hier noch einmal hinzuweisen auf Bernini's Colonnaden von S. Peter
(S. 338), als deren Caricatur etwa die Halle von S. Micchele in Mailand*
(von Francesco Croce) zu nennen wäre, welche aus vier grössern und vier
dazwischen vertheilten kleinern Kreissegmenten besteht.

Die Kirchenfassaden. Ihre Schwingung.
form 1) geschwungen wird. Das Auge hält, zumal beim Anblick von
der Seite, die Biegung für stärker als sie ist und setzt die ihm durch
Verschiebung unsichtbaren Theile reicher voraus als sie sind. Sodann ist
auch hier ein malerisches Princip thätig: dasjenige, die homogenen
Bauglieder, z. B. alle Fenstergiebel, alle Capitäle desselben Ranges
dem Beschauer auf den ersten Blick unter ganz verschiedenen Ge-
sichtspunkten vorzuführen, während die strengere Architektur ihre
Wirkung im geraden Gegentheil sucht. Ich weiss nicht, war es noth-
wendige Consequenz oder nicht, dass die Giebel ausser der Schwin-
gung nach aussen auch wieder eine nach oben annahmen, sodass ihr
Rand eine doppelt bedingte, meist ganz irrationelle Curve bildet; so
viel ist sicher, dass diese Form zu den abschreckendsten der ganzen
Baukunst gehört, zumal wenn die Giebel gebrochen sind. — Es wird
damals theoretisch zugegeben, dass die runde Form unter allen Um-
ständen die schönste sei 2); ohne darauf zu achten, welche Vorbedin-
gungen die wahre Baukunst macht und machen muss.

Francesco Borromini ist für diese geschwungenen Fassaden
der berüchtigte Name geworden, obschon die übelsten Consequenzen
erst von der missverstehenden Willkür der Nachahmer gezogen wur-
den. Sein Kirchlein S. Carlo alle quattro fontane (1667) enthält ina
der That weder innen noch aussen andere gerade Linien als diejeni-
gen an den Fensterpfosten etc. — An S. Marcello am Corso ist dieb
Fronte von Carlo Fontana; S. Luca von Pietro da Cortona;
S. Croce unweit vom Pantheon aus dem XVIII. Jahrhundert. — Eine
Seite kann man diesen Fratzengebilden immerhin abgewinnen: sie sind
wenigstens wirkliche Architektur, können schöne und grossartige
Hauptverhältnisse darstellen und stellen sie bisweilen wirklich dar.
Dies wird man am Besten inne beim Anblick gleichzeitiger venezia-
nischer
Kirchenfassaden (S. Moisè, Chiesa del Ricovero, S. Mariac
Zobenigo, Scalzi), welche zwar geradlinig aber keine Architektur mehr,

1) Ein werther Freund, den ich aus der Ferne herzlich grüsse, pflegte zu sagen,
solche Fassaden seien auf dem Ofen getrocknet.
2) Es ist hier noch einmal hinzuweisen auf Bernini’s Colonnaden von S. Peter
(S. 338), als deren Caricatur etwa die Halle von S. Micchele in Mailand*
(von Francesco Croce) zu nennen wäre, welche aus vier grössern und vier
dazwischen vertheilten kleinern Kreissegmenten besteht.
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[373/0395] Die Kirchenfassaden. Ihre Schwingung. form 1) geschwungen wird. Das Auge hält, zumal beim Anblick von der Seite, die Biegung für stärker als sie ist und setzt die ihm durch Verschiebung unsichtbaren Theile reicher voraus als sie sind. Sodann ist auch hier ein malerisches Princip thätig: dasjenige, die homogenen Bauglieder, z. B. alle Fenstergiebel, alle Capitäle desselben Ranges dem Beschauer auf den ersten Blick unter ganz verschiedenen Ge- sichtspunkten vorzuführen, während die strengere Architektur ihre Wirkung im geraden Gegentheil sucht. Ich weiss nicht, war es noth- wendige Consequenz oder nicht, dass die Giebel ausser der Schwin- gung nach aussen auch wieder eine nach oben annahmen, sodass ihr Rand eine doppelt bedingte, meist ganz irrationelle Curve bildet; so viel ist sicher, dass diese Form zu den abschreckendsten der ganzen Baukunst gehört, zumal wenn die Giebel gebrochen sind. — Es wird damals theoretisch zugegeben, dass die runde Form unter allen Um- ständen die schönste sei 2); ohne darauf zu achten, welche Vorbedin- gungen die wahre Baukunst macht und machen muss. Francesco Borromini ist für diese geschwungenen Fassaden der berüchtigte Name geworden, obschon die übelsten Consequenzen erst von der missverstehenden Willkür der Nachahmer gezogen wur- den. Sein Kirchlein S. Carlo alle quattro fontane (1667) enthält in der That weder innen noch aussen andere gerade Linien als diejeni- gen an den Fensterpfosten etc. — An S. Marcello am Corso ist die Fronte von Carlo Fontana; S. Luca von Pietro da Cortona; S. Croce unweit vom Pantheon aus dem XVIII. Jahrhundert. — Eine Seite kann man diesen Fratzengebilden immerhin abgewinnen: sie sind wenigstens wirkliche Architektur, können schöne und grossartige Hauptverhältnisse darstellen und stellen sie bisweilen wirklich dar. Dies wird man am Besten inne beim Anblick gleichzeitiger venezia- nischer Kirchenfassaden (S. Moisè, Chiesa del Ricovero, S. Maria Zobenigo, Scalzi), welche zwar geradlinig aber keine Architektur mehr, a b c 1) Ein werther Freund, den ich aus der Ferne herzlich grüsse, pflegte zu sagen, solche Fassaden seien auf dem Ofen getrocknet. 2) Es ist hier noch einmal hinzuweisen auf Bernini’s Colonnaden von S. Peter (S. 338), als deren Caricatur etwa die Halle von S. Micchele in Mailand (von Francesco Croce) zu nennen wäre, welche aus vier grössern und vier dazwischen vertheilten kleinern Kreissegmenten besteht.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/395>, abgerufen am 18.12.2024.