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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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San Marco in Venedig.
seiner Macht (um 1500) wohl gehütet, es etwa durch eine Renaissance-
kirche zu ersetzen. Sanct Marcus war Herr und Mittelpunkt der Stadt, des
Staates, der Flotten, die auf allen Meeren fuhren, der fernsten Colonien
und Factoreien; geheimnissvolle Bande walteten zwischen dem ganzen
venetianischen Dasein und diesem Bau. In den fünf letzten Jahrhun-
derten ist Niemand mehr darin begraben worden; es hätte geschienen,
als dränge sich ein Einzelner in dem Raume vor, der allen gehörte.
Die einzige Ausnahme, zu Gunsten des Cardinals Giov. Batt. Zeno,
wurde gemacht als die Kunstbegeisterung einen Augenblick stärker
war als jede andere Rücksicht (1505--1515).

Rein als Bauwerk betrachtet, ist S. Marco von Aussen ziemlich
nichtig und ungeschickt. Die Kuppeln heben sich in der Wirkung ge-
genseitig auf; die Fassade ist die unruhigste und zerstreuteste die es
giebt, ohne wahrhaft herrschende Linien und ausgesprochene Kräfte.
Anders verhält es sich mit dem Innern. Man wird dasselbe vor allem
grösser finden, als der Eindruck des Äussern erwarten liess, trotz der
Bekleidung mit Mosaiken auf Goldgrund, die sonst ein Gebäude eher
verkleinert und trotz der Aussenhalle, welche für den Effect des In-
nern natürlich in Abrechnung kömmt. Diese scheinbare Grösse be-
ruht auf den einfachen, gar nicht (wie am Äussern) in kleine Motive
zersplitterten Hauptformen; die Mittelräume sind wirklich gross und
gleichsam aus Einem Stück, die Nebenschiffe versprechen eine bedeu-
tendere Ausdehnung, als sie in der That besitzen. Auch die Kuppeln
gewähren hier eine Bereicherung der Perspective und eine scheinbare
Erweiterung des Raumes. Sodann macht die ernste, gediegene Pracht
sämmtlicher Baustoffe, hier im Dienste grösserer Einfachheit, immer
eine grosse Wirkung. Ihr jetziges Hauptlicht hat die Kirche erst im
XIV. Jahrhundert, durch das grosse Rundfenster des südlichen Quer-
schiffes erhalten; vorher war sie nach byzantinischer Art ziemlich dun-
kel; die wichtigsten Gottesdienste gingen wohl bei starker Lampenbe-
leuchtung vor sich. -- Noch grösser als die bauliche Wirkung ist aber
die malerische im engern Sinn, welche S. Marco zum Lieblingsbau der
Architekturmaler gemacht hat. Sie beruht auf den geheimnissvollen
Durchblicken mit scharfabwechselnder Beleuchtung 1), auf der gedämpf-

1) Die dunkeln, satten Farben des meisten Steinwerkes wären reflexlos ohne die
eigenthümliche Spiegelglätte der Flächen desselben.

San Marco in Venedig.
seiner Macht (um 1500) wohl gehütet, es etwa durch eine Renaissance-
kirche zu ersetzen. Sanct Marcus war Herr und Mittelpunkt der Stadt, des
Staates, der Flotten, die auf allen Meeren fuhren, der fernsten Colonien
und Factoreien; geheimnissvolle Bande walteten zwischen dem ganzen
venetianischen Dasein und diesem Bau. In den fünf letzten Jahrhun-
derten ist Niemand mehr darin begraben worden; es hätte geschienen,
als dränge sich ein Einzelner in dem Raume vor, der allen gehörte.
Die einzige Ausnahme, zu Gunsten des Cardinals Giov. Batt. Zeno,
wurde gemacht als die Kunstbegeisterung einen Augenblick stärker
war als jede andere Rücksicht (1505—1515).

Rein als Bauwerk betrachtet, ist S. Marco von Aussen ziemlich
nichtig und ungeschickt. Die Kuppeln heben sich in der Wirkung ge-
genseitig auf; die Fassade ist die unruhigste und zerstreuteste die es
giebt, ohne wahrhaft herrschende Linien und ausgesprochene Kräfte.
Anders verhält es sich mit dem Innern. Man wird dasselbe vor allem
grösser finden, als der Eindruck des Äussern erwarten liess, trotz der
Bekleidung mit Mosaiken auf Goldgrund, die sonst ein Gebäude eher
verkleinert und trotz der Aussenhalle, welche für den Effect des In-
nern natürlich in Abrechnung kömmt. Diese scheinbare Grösse be-
ruht auf den einfachen, gar nicht (wie am Äussern) in kleine Motive
zersplitterten Hauptformen; die Mittelräume sind wirklich gross und
gleichsam aus Einem Stück, die Nebenschiffe versprechen eine bedeu-
tendere Ausdehnung, als sie in der That besitzen. Auch die Kuppeln
gewähren hier eine Bereicherung der Perspective und eine scheinbare
Erweiterung des Raumes. Sodann macht die ernste, gediegene Pracht
sämmtlicher Baustoffe, hier im Dienste grösserer Einfachheit, immer
eine grosse Wirkung. Ihr jetziges Hauptlicht hat die Kirche erst im
XIV. Jahrhundert, durch das grosse Rundfenster des südlichen Quer-
schiffes erhalten; vorher war sie nach byzantinischer Art ziemlich dun-
kel; die wichtigsten Gottesdienste gingen wohl bei starker Lampenbe-
leuchtung vor sich. — Noch grösser als die bauliche Wirkung ist aber
die malerische im engern Sinn, welche S. Marco zum Lieblingsbau der
Architekturmaler gemacht hat. Sie beruht auf den geheimnissvollen
Durchblicken mit scharfabwechselnder Beleuchtung 1), auf der gedämpf-

1) Die dunkeln, satten Farben des meisten Steinwerkes wären reflexlos ohne die
eigenthümliche Spiegelglätte der Flächen desselben.
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[117/0139] San Marco in Venedig. seiner Macht (um 1500) wohl gehütet, es etwa durch eine Renaissance- kirche zu ersetzen. Sanct Marcus war Herr und Mittelpunkt der Stadt, des Staates, der Flotten, die auf allen Meeren fuhren, der fernsten Colonien und Factoreien; geheimnissvolle Bande walteten zwischen dem ganzen venetianischen Dasein und diesem Bau. In den fünf letzten Jahrhun- derten ist Niemand mehr darin begraben worden; es hätte geschienen, als dränge sich ein Einzelner in dem Raume vor, der allen gehörte. Die einzige Ausnahme, zu Gunsten des Cardinals Giov. Batt. Zeno, wurde gemacht als die Kunstbegeisterung einen Augenblick stärker war als jede andere Rücksicht (1505—1515). Rein als Bauwerk betrachtet, ist S. Marco von Aussen ziemlich nichtig und ungeschickt. Die Kuppeln heben sich in der Wirkung ge- genseitig auf; die Fassade ist die unruhigste und zerstreuteste die es giebt, ohne wahrhaft herrschende Linien und ausgesprochene Kräfte. Anders verhält es sich mit dem Innern. Man wird dasselbe vor allem grösser finden, als der Eindruck des Äussern erwarten liess, trotz der Bekleidung mit Mosaiken auf Goldgrund, die sonst ein Gebäude eher verkleinert und trotz der Aussenhalle, welche für den Effect des In- nern natürlich in Abrechnung kömmt. Diese scheinbare Grösse be- ruht auf den einfachen, gar nicht (wie am Äussern) in kleine Motive zersplitterten Hauptformen; die Mittelräume sind wirklich gross und gleichsam aus Einem Stück, die Nebenschiffe versprechen eine bedeu- tendere Ausdehnung, als sie in der That besitzen. Auch die Kuppeln gewähren hier eine Bereicherung der Perspective und eine scheinbare Erweiterung des Raumes. Sodann macht die ernste, gediegene Pracht sämmtlicher Baustoffe, hier im Dienste grösserer Einfachheit, immer eine grosse Wirkung. Ihr jetziges Hauptlicht hat die Kirche erst im XIV. Jahrhundert, durch das grosse Rundfenster des südlichen Quer- schiffes erhalten; vorher war sie nach byzantinischer Art ziemlich dun- kel; die wichtigsten Gottesdienste gingen wohl bei starker Lampenbe- leuchtung vor sich. — Noch grösser als die bauliche Wirkung ist aber die malerische im engern Sinn, welche S. Marco zum Lieblingsbau der Architekturmaler gemacht hat. Sie beruht auf den geheimnissvollen Durchblicken mit scharfabwechselnder Beleuchtung 1), auf der gedämpf- 1) Die dunkeln, satten Farben des meisten Steinwerkes wären reflexlos ohne die eigenthümliche Spiegelglätte der Flächen desselben.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/139>, abgerufen am 27.11.2024.