antiken Capitäle irgendwie repräsentirt. Die grossen Capitäle über den Hauptsäulen im Innern sind von der in Ravenna üblichen Art der korinthischen, zum Theil auch der Composita-Ordnung; der Akanthus ist zwar zu sehr ermattet, um noch jenen schönen elastischen Um- schlag der römischen Zeit hervorbringen zu können, allein seine Blätter sind doch eigenthümlich lebendig gezackt; an einigen statt der Voluten Widderköpfe. -- Sonst findet man ausser dieser gewöhnlichsten ravennatischen Form auch die mit einzeln aufgeklebt scheinenden Blät- tern, die zu Ravenna an S. Apollinare in Classe und an der Hercu- lesbasilica vorkommt, sogar mit seitwärts gewehten Blättern. Korin- thisirende mit bloss einer Blattreihe kommen besonders an den kleinern Säulen der Fassade vor; darunter auch solche mit Stieren, Adlern etc. an den Ecken.
Im Gegensatz zu diesen vom Alterthum abgeleiteten Bildungen macht sich dann das ganz leblose, nur durch ausgesparte vegetabilische und kalligraphische, z. B. gitterartige Verzierungen äusserlich berei- cherte Muldencapitäl geltend, das in Ravenna schon seit dem VI. Jahr- hundert auftaucht. Von den vielen Variationen, in welchen es hier vorkömmt, ist die rohste die an mehreren Wandsäulen des Innern, die interessanteste, die an den bogentragenden Wandsäulen in der Vor- halle; da letztere ein zaghaftes Nachbild ionischer Voluten unter sich haben, so scheinen sie eher für eine Art von vermittelnden Consolen als für eigentliche Capitäle gelten zu sollen. Neben dieser Form kommt auch das echte abendländische Würfelcapitäl, doch nur ver- einzelt vor. -- Endlich offenbaren die Capitäle der acht freistehenden Säulen in der Vorhalle den Charakter absonderlicher Prachtarbeiten irgend einer Bauhütte von Constantinopel; es sind diejenigen mit den noch antik schönen Löwenköpfen und Pfauen. -- Die beiden vierecki- gen Pfeiler aussen an der Südseite, welche aus einer Kirche in Pto- lemais stammen, sind eine Trophäe aus der Zeit der Kreuzzüge. -- Einzelne Renaissancecapitäle kamen bei Ausbesserungen hinzu.
Der Eindruck des Gebäudes ist von der historisch-phantastischen Seite ungemein bedeutend. Der Inselstaat, ein Unicum in der Welt- geschichte, hat hier geoffenbart, was er in den ersten Zeiten seiner höhern Blüthe für schön, erhaben und heilig hielt. Er hat das Ge- bäude auch später immer respectirt und sich selbst auf dem Gipfel
San Marco in Venedig.
antiken Capitäle irgendwie repräsentirt. Die grossen Capitäle über den Hauptsäulen im Innern sind von der in Ravenna üblichen Art der korinthischen, zum Theil auch der Composita-Ordnung; der Akanthus ist zwar zu sehr ermattet, um noch jenen schönen elastischen Um- schlag der römischen Zeit hervorbringen zu können, allein seine Blätter sind doch eigenthümlich lebendig gezackt; an einigen statt der Voluten Widderköpfe. — Sonst findet man ausser dieser gewöhnlichsten ravennatischen Form auch die mit einzeln aufgeklebt scheinenden Blät- tern, die zu Ravenna an S. Apollinare in Classe und an der Hercu- lesbasilica vorkommt, sogar mit seitwärts gewehten Blättern. Korin- thisirende mit bloss einer Blattreihe kommen besonders an den kleinern Säulen der Fassade vor; darunter auch solche mit Stieren, Adlern etc. an den Ecken.
Im Gegensatz zu diesen vom Alterthum abgeleiteten Bildungen macht sich dann das ganz leblose, nur durch ausgesparte vegetabilische und kalligraphische, z. B. gitterartige Verzierungen äusserlich berei- cherte Muldencapitäl geltend, das in Ravenna schon seit dem VI. Jahr- hundert auftaucht. Von den vielen Variationen, in welchen es hier vorkömmt, ist die rohste die an mehreren Wandsäulen des Innern, die interessanteste, die an den bogentragenden Wandsäulen in der Vor- halle; da letztere ein zaghaftes Nachbild ionischer Voluten unter sich haben, so scheinen sie eher für eine Art von vermittelnden Consolen als für eigentliche Capitäle gelten zu sollen. Neben dieser Form kommt auch das echte abendländische Würfelcapitäl, doch nur ver- einzelt vor. — Endlich offenbaren die Capitäle der acht freistehenden Säulen in der Vorhalle den Charakter absonderlicher Prachtarbeiten irgend einer Bauhütte von Constantinopel; es sind diejenigen mit den noch antik schönen Löwenköpfen und Pfauen. — Die beiden vierecki- gen Pfeiler aussen an der Südseite, welche aus einer Kirche in Pto- lemais stammen, sind eine Trophäe aus der Zeit der Kreuzzüge. — Einzelne Renaissancecapitäle kamen bei Ausbesserungen hinzu.
Der Eindruck des Gebäudes ist von der historisch-phantastischen Seite ungemein bedeutend. Der Inselstaat, ein Unicum in der Welt- geschichte, hat hier geoffenbart, was er in den ersten Zeiten seiner höhern Blüthe für schön, erhaben und heilig hielt. Er hat das Ge- bäude auch später immer respectirt und sich selbst auf dem Gipfel
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San Marco in Venedig.
antiken Capitäle irgendwie repräsentirt. Die grossen Capitäle über
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ist zwar zu sehr ermattet, um noch jenen schönen elastischen Um-
schlag der römischen Zeit hervorbringen zu können, allein seine Blätter
sind doch eigenthümlich lebendig gezackt; an einigen statt der Voluten
Widderköpfe. — Sonst findet man ausser dieser gewöhnlichsten
ravennatischen Form auch die mit einzeln aufgeklebt scheinenden Blät-
tern, die zu Ravenna an S. Apollinare in Classe und an der Hercu-
lesbasilica vorkommt, sogar mit seitwärts gewehten Blättern. Korin-
thisirende mit bloss einer Blattreihe kommen besonders an den kleinern
Säulen der Fassade vor; darunter auch solche mit Stieren, Adlern etc.
an den Ecken.
Im Gegensatz zu diesen vom Alterthum abgeleiteten Bildungen
macht sich dann das ganz leblose, nur durch ausgesparte vegetabilische
und kalligraphische, z. B. gitterartige Verzierungen äusserlich berei-
cherte Muldencapitäl geltend, das in Ravenna schon seit dem VI. Jahr-
hundert auftaucht. Von den vielen Variationen, in welchen es hier
vorkömmt, ist die rohste die an mehreren Wandsäulen des Innern, die
interessanteste, die an den bogentragenden Wandsäulen in der Vor-
halle; da letztere ein zaghaftes Nachbild ionischer Voluten unter sich
haben, so scheinen sie eher für eine Art von vermittelnden Consolen
als für eigentliche Capitäle gelten zu sollen. Neben dieser Form
kommt auch das echte abendländische Würfelcapitäl, doch nur ver-
einzelt vor. — Endlich offenbaren die Capitäle der acht freistehenden
Säulen in der Vorhalle den Charakter absonderlicher Prachtarbeiten
irgend einer Bauhütte von Constantinopel; es sind diejenigen mit den
noch antik schönen Löwenköpfen und Pfauen. — Die beiden vierecki-
gen Pfeiler aussen an der Südseite, welche aus einer Kirche in Pto-
lemais stammen, sind eine Trophäe aus der Zeit der Kreuzzüge. —
Einzelne Renaissancecapitäle kamen bei Ausbesserungen hinzu.
Der Eindruck des Gebäudes ist von der historisch-phantastischen
Seite ungemein bedeutend. Der Inselstaat, ein Unicum in der Welt-
geschichte, hat hier geoffenbart, was er in den ersten Zeiten seiner
höhern Blüthe für schön, erhaben und heilig hielt. Er hat das Ge-
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/138>, abgerufen am 27.11.2024.
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