Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Affect in der biblischen Geschichte.
ist die des Caravaggio (Pal. Brignole zu Genua) immer eine der be-a
deutendsten Leistungen des gemeinern Naturalismus. -- Das Abend-
mahl fällt gleich unwürdig aus, ob es als Genrebild oder als Affect-
scene behandelt werde. Ersteres ist z. B. der Fall in dem grossenb
Bilde des Aless. Allori (Acad. zu Florenz), welches eine ganz
schön gemalte, lebendige "Scene nach Tische" heissen kann. Bei
Domenico Piola (S. Stefano in Genua, Anbau links) fehlt es nichtc
an Pathos aller Art, allein das "unus vestrum" geht unter in einem
gesuchten Lichteffect und in den Zuthaten (Bettler, Aufwärter, Kin-
der, auch ein niederschwebender Reigen von Putten). -- Im Chor
von S. Martino zu Neapel sind ausser der grossen Geburt Christi von
Guido vier colossale Bilder dieser Gattung zu finden, deren zum Theild
berühmte Urheber doch hier nicht auf ihrer rechten Höhe erscheinen:
Ribera, die Communion der Apostel; -- Caracciolo, die Fusswa-
schung; -- Stanzioni, figurenreiches Abendmahl; -- Erben des
Paolo Veronese
, Einsetzung der Eucharistie. (So Galanti, dem
ich beim Erlöschen meiner Erinnerungen folgen muss.) -- Von den Pas-
sionsscenen (abgesehen von einzelnen Figuren, wie das Eccehomo, der
Crucifixus) ist es hauptsächlich der Moment des Affectes im vorzugs-
weisen Sinne, welcher nun tausendmal dargestellt wird: die Pieta,
der vom Kreuz abgenommene Leichnam, umgeben von Maria, Johannes,
Magdalena und Andern. Die Vorbilder Tizian's und Coreggio's be-
rechtigten und reizten hier zur höchsten Steigerung des Ausdruckes.
Wie bei der Scene unter dem Kreuze, so wird nun auch hier, dem
Wirklichkeitsprincip gemäss, die Madonna fast immer ohnmächtig, d. h.
der sittliche Inhalt muss mit einem pathologischen theilen. Wo die-
ser Zug ausgeschlossen ist, wie z. B. in den Bildern, welche nur die
Madonna mit dem Leichnam auf den Knieen darstellen (Lod. Ca-e
racci: im Pal. Corsini zu Rom; Annibale: im Pal. Doria und imf
Museum von Neapel), da ist auch der Eindruck viel reiner. -- Dieg
bedeutendste jener vollständigern Darstellungen ist wohl die schon
wegen ihrer Anordnung (S. 1025) erwähnte Mad. della Pieta desh
Guido (Pinacoteca von Bologna); leider hatte er den Muth nicht,
diese Scene, wie Rafael seine Transfiguration in einen bestimmten
obern, auf einen zweiten Augenpunkt berechneten Raum zu versetzen
(etwa auf einen Hügel), sondern brachte sie als auf einer über den knieen-

Der Affect in der biblischen Geschichte.
ist die des Caravaggio (Pal. Brignole zu Genua) immer eine der be-a
deutendsten Leistungen des gemeinern Naturalismus. — Das Abend-
mahl fällt gleich unwürdig aus, ob es als Genrebild oder als Affect-
scene behandelt werde. Ersteres ist z. B. der Fall in dem grossenb
Bilde des Aless. Allori (Acad. zu Florenz), welches eine ganz
schön gemalte, lebendige „Scene nach Tische“ heissen kann. Bei
Domenico Piola (S. Stefano in Genua, Anbau links) fehlt es nichtc
an Pathos aller Art, allein das „unus vestrum“ geht unter in einem
gesuchten Lichteffect und in den Zuthaten (Bettler, Aufwärter, Kin-
der, auch ein niederschwebender Reigen von Putten). — Im Chor
von S. Martino zu Neapel sind ausser der grossen Geburt Christi von
Guido vier colossale Bilder dieser Gattung zu finden, deren zum Theild
berühmte Urheber doch hier nicht auf ihrer rechten Höhe erscheinen:
Ribera, die Communion der Apostel; — Caracciolo, die Fusswa-
schung; — Stanzioni, figurenreiches Abendmahl; — Erben des
Paolo Veronese
, Einsetzung der Eucharistie. (So Galanti, dem
ich beim Erlöschen meiner Erinnerungen folgen muss.) — Von den Pas-
sionsscenen (abgesehen von einzelnen Figuren, wie das Eccehomo, der
Crucifixus) ist es hauptsächlich der Moment des Affectes im vorzugs-
weisen Sinne, welcher nun tausendmal dargestellt wird: die Pietà,
der vom Kreuz abgenommene Leichnam, umgeben von Maria, Johannes,
Magdalena und Andern. Die Vorbilder Tizian’s und Coreggio’s be-
rechtigten und reizten hier zur höchsten Steigerung des Ausdruckes.
Wie bei der Scene unter dem Kreuze, so wird nun auch hier, dem
Wirklichkeitsprincip gemäss, die Madonna fast immer ohnmächtig, d. h.
der sittliche Inhalt muss mit einem pathologischen theilen. Wo die-
ser Zug ausgeschlossen ist, wie z. B. in den Bildern, welche nur die
Madonna mit dem Leichnam auf den Knieen darstellen (Lod. Ca-e
racci: im Pal. Corsini zu Rom; Annibale: im Pal. Doria und imf
Museum von Neapel), da ist auch der Eindruck viel reiner. — Dieg
bedeutendste jener vollständigern Darstellungen ist wohl die schon
wegen ihrer Anordnung (S. 1025) erwähnte Mad. della Pietà desh
Guido (Pinacoteca von Bologna); leider hatte er den Muth nicht,
diese Scene, wie Rafael seine Transfiguration in einen bestimmten
obern, auf einen zweiten Augenpunkt berechneten Raum zu versetzen
(etwa auf einen Hügel), sondern brachte sie als auf einer über den knieen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f1051" n="1029"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Der Affect in der biblischen Geschichte.</hi></fw><lb/>
ist die des Caravaggio (Pal. Brignole zu Genua) immer eine der be-<note place="right">a</note><lb/>
deutendsten Leistungen des gemeinern Naturalismus. &#x2014; Das Abend-<lb/>
mahl fällt gleich unwürdig aus, ob es als Genrebild oder als Affect-<lb/>
scene behandelt werde. Ersteres ist z. B. der Fall in dem grossen<note place="right">b</note><lb/>
Bilde des <hi rendition="#g">Aless. Allori</hi> (Acad. zu Florenz), welches eine ganz<lb/>
schön gemalte, lebendige &#x201E;Scene nach Tische&#x201C; heissen kann. Bei<lb/><hi rendition="#g">Domenico Piola</hi> (S. Stefano in Genua, Anbau links) fehlt es nicht<note place="right">c</note><lb/>
an Pathos aller Art, allein das &#x201E;unus vestrum&#x201C; geht unter in einem<lb/>
gesuchten Lichteffect und in den Zuthaten (Bettler, Aufwärter, Kin-<lb/>
der, auch ein niederschwebender Reigen von Putten). &#x2014; Im Chor<lb/>
von S. Martino zu Neapel sind ausser der grossen Geburt Christi von<lb/>
Guido vier colossale Bilder dieser Gattung zu finden, deren zum Theil<note place="right">d</note><lb/>
berühmte Urheber doch hier nicht auf ihrer rechten Höhe erscheinen:<lb/><hi rendition="#g">Ribera</hi>, die Communion der Apostel; &#x2014; <hi rendition="#g">Caracciolo</hi>, die Fusswa-<lb/>
schung; &#x2014; <hi rendition="#g">Stanzioni</hi>, figurenreiches Abendmahl; &#x2014; <hi rendition="#g">Erben des<lb/>
Paolo Veronese</hi>, Einsetzung der Eucharistie. (So Galanti, dem<lb/>
ich beim Erlöschen meiner Erinnerungen folgen muss.) &#x2014; Von den Pas-<lb/>
sionsscenen (abgesehen von einzelnen Figuren, wie das Eccehomo, der<lb/>
Crucifixus) ist es hauptsächlich der Moment des Affectes im vorzugs-<lb/>
weisen Sinne, welcher nun tausendmal dargestellt wird: die Pietà,<lb/>
der vom Kreuz abgenommene Leichnam, umgeben von Maria, Johannes,<lb/>
Magdalena und Andern. Die Vorbilder Tizian&#x2019;s und Coreggio&#x2019;s be-<lb/>
rechtigten und reizten hier zur höchsten Steigerung des Ausdruckes.<lb/>
Wie bei der Scene unter dem Kreuze, so wird nun auch hier, dem<lb/>
Wirklichkeitsprincip gemäss, die Madonna fast immer ohnmächtig, d. h.<lb/>
der sittliche Inhalt muss mit einem pathologischen theilen. Wo die-<lb/>
ser Zug ausgeschlossen ist, wie z. B. in den Bildern, welche nur die<lb/>
Madonna mit dem Leichnam auf den Knieen darstellen (<hi rendition="#g">Lod. Ca-</hi><note place="right">e</note><lb/><hi rendition="#g">racci</hi>: im Pal. Corsini zu Rom; <hi rendition="#g">Annibale:</hi> im Pal. Doria und im<note place="right">f</note><lb/>
Museum von Neapel), da ist auch der Eindruck viel reiner. &#x2014; Die<note place="right">g</note><lb/>
bedeutendste jener vollständigern Darstellungen ist wohl die schon<lb/>
wegen ihrer Anordnung (S. 1025) erwähnte <hi rendition="#g">Mad. della Pietà</hi> des<note place="right">h</note><lb/><hi rendition="#g">Guido</hi> (Pinacoteca von Bologna); leider hatte er den Muth nicht,<lb/>
diese Scene, wie Rafael seine Transfiguration in einen bestimmten<lb/>
obern, auf einen zweiten Augenpunkt berechneten Raum zu versetzen<lb/>
(etwa auf einen Hügel), sondern brachte sie als auf einer über den knieen-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1029/1051] Der Affect in der biblischen Geschichte. ist die des Caravaggio (Pal. Brignole zu Genua) immer eine der be- deutendsten Leistungen des gemeinern Naturalismus. — Das Abend- mahl fällt gleich unwürdig aus, ob es als Genrebild oder als Affect- scene behandelt werde. Ersteres ist z. B. der Fall in dem grossen Bilde des Aless. Allori (Acad. zu Florenz), welches eine ganz schön gemalte, lebendige „Scene nach Tische“ heissen kann. Bei Domenico Piola (S. Stefano in Genua, Anbau links) fehlt es nicht an Pathos aller Art, allein das „unus vestrum“ geht unter in einem gesuchten Lichteffect und in den Zuthaten (Bettler, Aufwärter, Kin- der, auch ein niederschwebender Reigen von Putten). — Im Chor von S. Martino zu Neapel sind ausser der grossen Geburt Christi von Guido vier colossale Bilder dieser Gattung zu finden, deren zum Theil berühmte Urheber doch hier nicht auf ihrer rechten Höhe erscheinen: Ribera, die Communion der Apostel; — Caracciolo, die Fusswa- schung; — Stanzioni, figurenreiches Abendmahl; — Erben des Paolo Veronese, Einsetzung der Eucharistie. (So Galanti, dem ich beim Erlöschen meiner Erinnerungen folgen muss.) — Von den Pas- sionsscenen (abgesehen von einzelnen Figuren, wie das Eccehomo, der Crucifixus) ist es hauptsächlich der Moment des Affectes im vorzugs- weisen Sinne, welcher nun tausendmal dargestellt wird: die Pietà, der vom Kreuz abgenommene Leichnam, umgeben von Maria, Johannes, Magdalena und Andern. Die Vorbilder Tizian’s und Coreggio’s be- rechtigten und reizten hier zur höchsten Steigerung des Ausdruckes. Wie bei der Scene unter dem Kreuze, so wird nun auch hier, dem Wirklichkeitsprincip gemäss, die Madonna fast immer ohnmächtig, d. h. der sittliche Inhalt muss mit einem pathologischen theilen. Wo die- ser Zug ausgeschlossen ist, wie z. B. in den Bildern, welche nur die Madonna mit dem Leichnam auf den Knieen darstellen (Lod. Ca- racci: im Pal. Corsini zu Rom; Annibale: im Pal. Doria und im Museum von Neapel), da ist auch der Eindruck viel reiner. — Die bedeutendste jener vollständigern Darstellungen ist wohl die schon wegen ihrer Anordnung (S. 1025) erwähnte Mad. della Pietà des Guido (Pinacoteca von Bologna); leider hatte er den Muth nicht, diese Scene, wie Rafael seine Transfiguration in einen bestimmten obern, auf einen zweiten Augenpunkt berechneten Raum zu versetzen (etwa auf einen Hügel), sondern brachte sie als auf einer über den knieen- a b c d e f g h

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/1051
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 1029. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/1051>, abgerufen am 26.05.2024.