Bestrebungen seines Volkes im scharfen Gegensatz. Nach er- sterer Richtung trat der Conflict freilich minder markant hervor, weil auch viele "Unterthanen" französisch gesinnt waren, (vrgl. S. IX), und ging auch rasch vorbei, weil fast nur in der Gießener Studentenschaft ein nationaler Ein- heitsdrang herrschte, welcher der Regierung des kleinen Staates gefährlich scheinen konnte. Nachdem sie die Burschenschaft zu Gießen, welche unter Karl Follen's Führung eine Ver- einigung aller Studentenschaften, einen "christlich-deutschen Burschenstaat" anstrebte, gesprengt und den Bund der "Schwar- zen", eine formlose Vereinigung junger Männer zu Darm- stadt, durch polizeiliche Chikane decimirt, blieb der Regierung nach dieser Richtung kaum etwas zu thun übrig: eine "Deutsche Gesellschaft", welche sich auf Arndt's Anregung im Großher- zogthum gebildet, hatte sich von selbst aufgelöst, als die nationale Begeisterung der Befreiungskriege verblaßte. Der Freiheitsdrang hingegen ließ sich nicht ersticken, obwohl man es nach demselben Recept versuchte. Wie die Rheinländer unter Görres' Führung, wie die Bürger der anderen süd- deutschen Länder, forderten auch die Hessen-Darmstädter von ihrem Fürsten die Vereinbarung eines Vertrags zwischen Re- gierung und Volk, einer Constitution. Ludwig I. sträubte sich länger dagegen, als die Fürsten von Nassau und Wür- temberg, Baden und Baiern; eine dumpfe Gährung trotzte ihm nur momentan ein Zugeständniß ab, welches er sofort zurückzog, als die Gefahr vorüber war. Das weckte neuen Sturm, und als ihn der Großherzog nur damit beilegen wollte, daß er die Octroyirung einer Verfassung -- versprach, da verweigerte das Volk die Steuern und es kam (nament- lich im Odenwald) 1819 zu blutigen Conflicten mit dem
Beſtrebungen ſeines Volkes im ſcharfen Gegenſatz. Nach er- ſterer Richtung trat der Conflict freilich minder markant hervor, weil auch viele "Unterthanen" franzöſiſch geſinnt waren, (vrgl. S. IX), und ging auch raſch vorbei, weil faſt nur in der Gießener Studentenſchaft ein nationaler Ein- heitsdrang herrſchte, welcher der Regierung des kleinen Staates gefährlich ſcheinen konnte. Nachdem ſie die Burſchenſchaft zu Gießen, welche unter Karl Follen's Führung eine Ver- einigung aller Studentenſchaften, einen "chriſtlich-deutſchen Burſchenſtaat" anſtrebte, geſprengt und den Bund der "Schwar- zen", eine formloſe Vereinigung junger Männer zu Darm- ſtadt, durch polizeiliche Chikane decimirt, blieb der Regierung nach dieſer Richtung kaum etwas zu thun übrig: eine "Deutſche Geſellſchaft", welche ſich auf Arndt's Anregung im Großher- zogthum gebildet, hatte ſich von ſelbſt aufgelöſt, als die nationale Begeiſterung der Befreiungskriege verblaßte. Der Freiheitsdrang hingegen ließ ſich nicht erſticken, obwohl man es nach demſelben Recept verſuchte. Wie die Rheinländer unter Görres' Führung, wie die Bürger der anderen ſüd- deutſchen Länder, forderten auch die Heſſen-Darmſtädter von ihrem Fürſten die Vereinbarung eines Vertrags zwiſchen Re- gierung und Volk, einer Conſtitution. Ludwig I. ſträubte ſich länger dagegen, als die Fürſten von Naſſau und Wür- temberg, Baden und Baiern; eine dumpfe Gährung trotzte ihm nur momentan ein Zugeſtändniß ab, welches er ſofort zurückzog, als die Gefahr vorüber war. Das weckte neuen Sturm, und als ihn der Großherzog nur damit beilegen wollte, daß er die Octroyirung einer Verfaſſung — verſprach, da verweigerte das Volk die Steuern und es kam (nament- lich im Odenwald) 1819 zu blutigen Conflicten mit dem
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[LXXV/0091]
Beſtrebungen ſeines Volkes im ſcharfen Gegenſatz. Nach er-
ſterer Richtung trat der Conflict freilich minder markant
hervor, weil auch viele "Unterthanen" franzöſiſch geſinnt
waren, (vrgl. S. IX), und ging auch raſch vorbei, weil
faſt nur in der Gießener Studentenſchaft ein nationaler Ein-
heitsdrang herrſchte, welcher der Regierung des kleinen Staates
gefährlich ſcheinen konnte. Nachdem ſie die Burſchenſchaft
zu Gießen, welche unter Karl Follen's Führung eine Ver-
einigung aller Studentenſchaften, einen "chriſtlich-deutſchen
Burſchenſtaat" anſtrebte, geſprengt und den Bund der "Schwar-
zen", eine formloſe Vereinigung junger Männer zu Darm-
ſtadt, durch polizeiliche Chikane decimirt, blieb der Regierung
nach dieſer Richtung kaum etwas zu thun übrig: eine "Deutſche
Geſellſchaft", welche ſich auf Arndt's Anregung im Großher-
zogthum gebildet, hatte ſich von ſelbſt aufgelöſt, als die
nationale Begeiſterung der Befreiungskriege verblaßte. Der
Freiheitsdrang hingegen ließ ſich nicht erſticken, obwohl man
es nach demſelben Recept verſuchte. Wie die Rheinländer
unter Görres' Führung, wie die Bürger der anderen ſüd-
deutſchen Länder, forderten auch die Heſſen-Darmſtädter von
ihrem Fürſten die Vereinbarung eines Vertrags zwiſchen Re-
gierung und Volk, einer Conſtitution. Ludwig I. ſträubte
ſich länger dagegen, als die Fürſten von Naſſau und Wür-
temberg, Baden und Baiern; eine dumpfe Gährung trotzte
ihm nur momentan ein Zugeſtändniß ab, welches er ſofort
zurückzog, als die Gefahr vorüber war. Das weckte neuen
Sturm, und als ihn der Großherzog nur damit beilegen
wollte, daß er die Octroyirung einer Verfaſſung — verſprach,
da verweigerte das Volk die Steuern und es kam (nament-
lich im Odenwald) 1819 zu blutigen Conflicten mit dem
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/91>, abgerufen am 25.11.2024.
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