Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

und Sehnen ging durch die Gemüther, man war excentrisch
in den Klagen, abenteuerlich in den Hoffnungen, verblendet
in den Mitteln. Was jenen Männern und Jünglingen
reine Begeisterung war, dünkt uns trübe Schwärmerei, und
was sie als praktisches, leicht erreichbares Ziel erstrebten,
muß uns als tolles Hirngespinnst erscheinen. Schier dünkt
es uns unfaßbar, wie so trüber Phrasendunst die Quelle so
reinen hohen Opfermuths werden konnte! Aber wenn wir,
getränkt von der nüchternen Weisheit einer glücklicheren und
geklärteren Zeit, den Stab über jene Männer, ihre Träume
und Irrthümer brechen wollten, so wäre dies nicht blos sehr
herzlos, sondern auch sehr unvernünftig. Es war eben die
harte Kampf- und Lehrzeit des deutschen Volkes und -- wer
in Kanaan sitzt, dem geziemt es nicht, jener zu vergessen, die
in der Wüste starben. Auch wird uns jene Epoche nur
dann unverständlich erscheinen, wenn wir sie als ein Fer-
tiges hinnehmen, ohne auf die Quelle zurückzugehen. Diese
Quelle aber ist -- es kann dies nicht scharf genug betont
werden -- die ungeheure Wandlung, welche die Befreiungs-
kriege im Deutschen Volke hervorgebracht. Es war durch
den Jammer der Fremdherrschaft und den Triumph seiner
Siege kein politisch reifes, aber doch ein politisch denkendes
Volk geworden und darum waren die deutschen Bundesacte
nicht blos ein Verbrechen, sondern auch ein politischer Fehler.
In aller Geschichte findet sich kein ähnliches Beispiel, daß
die denkbar günstigsten Vorbedingungen für Begründung
äußerer Macht und innerer Wohlfahrt einer Nation so
schmählich ungenützt geblieben und allmählig künstlich ge-
radezu in Hinternisse dieser Entwicklung umgestaltet worden.
Selbst wenn die spärlichen Verheißungen jener Acte erfüllt

und Sehnen ging durch die Gemüther, man war excentriſch
in den Klagen, abenteuerlich in den Hoffnungen, verblendet
in den Mitteln. Was jenen Männern und Jünglingen
reine Begeiſterung war, dünkt uns trübe Schwärmerei, und
was ſie als praktiſches, leicht erreichbares Ziel erſtrebten,
muß uns als tolles Hirngeſpinnſt erſcheinen. Schier dünkt
es uns unfaßbar, wie ſo trüber Phraſendunſt die Quelle ſo
reinen hohen Opfermuths werden konnte! Aber wenn wir,
getränkt von der nüchternen Weisheit einer glücklicheren und
geklärteren Zeit, den Stab über jene Männer, ihre Träume
und Irrthümer brechen wollten, ſo wäre dies nicht blos ſehr
herzlos, ſondern auch ſehr unvernünftig. Es war eben die
harte Kampf- und Lehrzeit des deutſchen Volkes und — wer
in Kanaan ſitzt, dem geziemt es nicht, jener zu vergeſſen, die
in der Wüſte ſtarben. Auch wird uns jene Epoche nur
dann unverſtändlich erſcheinen, wenn wir ſie als ein Fer-
tiges hinnehmen, ohne auf die Quelle zurückzugehen. Dieſe
Quelle aber iſt — es kann dies nicht ſcharf genug betont
werden — die ungeheure Wandlung, welche die Befreiungs-
kriege im Deutſchen Volke hervorgebracht. Es war durch
den Jammer der Fremdherrſchaft und den Triumph ſeiner
Siege kein politiſch reifes, aber doch ein politiſch denkendes
Volk geworden und darum waren die deutſchen Bundesacte
nicht blos ein Verbrechen, ſondern auch ein politiſcher Fehler.
In aller Geſchichte findet ſich kein ähnliches Beiſpiel, daß
die denkbar günſtigſten Vorbedingungen für Begründung
äußerer Macht und innerer Wohlfahrt einer Nation ſo
ſchmählich ungenützt geblieben und allmählig künſtlich ge-
radezu in Hinterniſſe dieſer Entwicklung umgeſtaltet worden.
Selbſt wenn die ſpärlichen Verheißungen jener Acte erfüllt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0088" n="LXXII"/>
und Sehnen ging durch die Gemüther, man war excentri&#x017F;ch<lb/>
in den Klagen, abenteuerlich in den Hoffnungen, verblendet<lb/>
in den Mitteln. Was jenen Männern und Jünglingen<lb/>
reine Begei&#x017F;terung war, dünkt uns trübe Schwärmerei, und<lb/>
was &#x017F;ie als prakti&#x017F;ches, leicht erreichbares Ziel er&#x017F;trebten,<lb/>
muß uns als tolles Hirnge&#x017F;pinn&#x017F;t er&#x017F;cheinen. Schier dünkt<lb/>
es uns unfaßbar, wie &#x017F;o trüber Phra&#x017F;endun&#x017F;t die Quelle &#x017F;o<lb/>
reinen hohen Opfermuths werden konnte! Aber wenn wir,<lb/>
getränkt von der nüchternen Weisheit einer glücklicheren und<lb/>
geklärteren Zeit, den Stab über jene Männer, ihre Träume<lb/>
und Irrthümer brechen wollten, &#x017F;o wäre dies nicht blos &#x017F;ehr<lb/>
herzlos, &#x017F;ondern auch &#x017F;ehr unvernünftig. Es war eben die<lb/>
harte Kampf- und Lehrzeit des deut&#x017F;chen Volkes und &#x2014; wer<lb/>
in Kanaan &#x017F;itzt, dem geziemt es nicht, jener zu verge&#x017F;&#x017F;en, die<lb/>
in der Wü&#x017F;te &#x017F;tarben. Auch wird uns jene Epoche nur<lb/>
dann unver&#x017F;tändlich er&#x017F;cheinen, wenn wir &#x017F;ie als ein Fer-<lb/>
tiges hinnehmen, ohne auf die Quelle zurückzugehen. Die&#x017F;e<lb/>
Quelle aber i&#x017F;t &#x2014; es kann dies nicht &#x017F;charf genug betont<lb/>
werden &#x2014; die ungeheure Wandlung, welche die Befreiungs-<lb/>
kriege im Deut&#x017F;chen Volke hervorgebracht. Es war durch<lb/>
den Jammer der Fremdherr&#x017F;chaft und den Triumph &#x017F;einer<lb/>
Siege kein politi&#x017F;ch reifes, aber doch ein politi&#x017F;ch denkendes<lb/>
Volk geworden und darum waren die deut&#x017F;chen Bundesacte<lb/>
nicht blos ein Verbrechen, &#x017F;ondern auch ein politi&#x017F;cher Fehler.<lb/>
In aller Ge&#x017F;chichte findet &#x017F;ich kein ähnliches Bei&#x017F;piel, daß<lb/>
die denkbar gün&#x017F;tig&#x017F;ten Vorbedingungen für Begründung<lb/>
äußerer Macht und innerer Wohlfahrt einer Nation &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chmählich ungenützt geblieben und allmählig kün&#x017F;tlich ge-<lb/>
radezu in Hinterni&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;er Entwicklung umge&#x017F;taltet worden.<lb/>
Selb&#x017F;t wenn die &#x017F;pärlichen Verheißungen jener Acte erfüllt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[LXXII/0088] und Sehnen ging durch die Gemüther, man war excentriſch in den Klagen, abenteuerlich in den Hoffnungen, verblendet in den Mitteln. Was jenen Männern und Jünglingen reine Begeiſterung war, dünkt uns trübe Schwärmerei, und was ſie als praktiſches, leicht erreichbares Ziel erſtrebten, muß uns als tolles Hirngeſpinnſt erſcheinen. Schier dünkt es uns unfaßbar, wie ſo trüber Phraſendunſt die Quelle ſo reinen hohen Opfermuths werden konnte! Aber wenn wir, getränkt von der nüchternen Weisheit einer glücklicheren und geklärteren Zeit, den Stab über jene Männer, ihre Träume und Irrthümer brechen wollten, ſo wäre dies nicht blos ſehr herzlos, ſondern auch ſehr unvernünftig. Es war eben die harte Kampf- und Lehrzeit des deutſchen Volkes und — wer in Kanaan ſitzt, dem geziemt es nicht, jener zu vergeſſen, die in der Wüſte ſtarben. Auch wird uns jene Epoche nur dann unverſtändlich erſcheinen, wenn wir ſie als ein Fer- tiges hinnehmen, ohne auf die Quelle zurückzugehen. Dieſe Quelle aber iſt — es kann dies nicht ſcharf genug betont werden — die ungeheure Wandlung, welche die Befreiungs- kriege im Deutſchen Volke hervorgebracht. Es war durch den Jammer der Fremdherrſchaft und den Triumph ſeiner Siege kein politiſch reifes, aber doch ein politiſch denkendes Volk geworden und darum waren die deutſchen Bundesacte nicht blos ein Verbrechen, ſondern auch ein politiſcher Fehler. In aller Geſchichte findet ſich kein ähnliches Beiſpiel, daß die denkbar günſtigſten Vorbedingungen für Begründung äußerer Macht und innerer Wohlfahrt einer Nation ſo ſchmählich ungenützt geblieben und allmählig künſtlich ge- radezu in Hinterniſſe dieſer Entwicklung umgeſtaltet worden. Selbſt wenn die ſpärlichen Verheißungen jener Acte erfüllt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/88
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/88>, abgerufen am 25.11.2024.