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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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in ihm, er empfand ein leises tiefes Mitleid mit sich selbst,
er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust, er
schlief ein, der Vollmond stand am Himmel, die Locken
fielen ihm über die Schläfe und das Gesicht, die Thränen
hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den Wangen
-- so lag er nun da allein, und Alles war ruhig und still
und kalt, und der Mond schien die ganze Nacht und stand
über den Bergen.

Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte
Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter er-
schienen sei; sie sei in einem weißen Kleid aus der dunkeln
Kirchhofmauer hervorgetreten und habe eine weiße und eine
rothe Rose an der Brust stecken gehabt; sie sei dann in
eine Ecke gesunken, und die Rosen seien langsam über sie
gewachsen, sie sei gewiß todt; er sei ganz ruhig darüber.
Oberlin versetzte ihm nun, wie er bei dem Tode seines
Vaters allein auf dem Felde gewesen sei, und er dann eine
Stimme gehört habe, so daß er wußte, daß sein Vater todt
sei, und wie er heimgekommen, sei es so gewesen. Das
führte sie weiter, Oberlin sprach noch von den Leuten im
Gebirge, von Mädchen, die das Wasser und Metall unter
der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berg-
höhen angefaßt würden und mit einem Geiste rängen; er
sagte ihm auch, wie er einmal im Gebirge durch das Schauen
in ein leeres tiefes Bergwasser in eine Art von Somnam-
bulismus versetzt worden sei. Lenz sagte, daß der Geist
des Wassers über ihn gekommen sei, daß er dann etwas
von seinem eigenthümlichen Sein empfunden hätte. Er fuhr
weiter fort: Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten
mit der elementarischen zusammen; je feiner der Mensch

in ihm, er empfand ein leiſes tiefes Mitleid mit ſich ſelbſt,
er weinte über ſich, ſein Haupt ſank auf die Bruſt, er
ſchlief ein, der Vollmond ſtand am Himmel, die Locken
fielen ihm über die Schläfe und das Geſicht, die Thränen
hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den Wangen
— ſo lag er nun da allein, und Alles war ruhig und ſtill
und kalt, und der Mond ſchien die ganze Nacht und ſtand
über den Bergen.

Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte
Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht ſeine Mutter er-
ſchienen ſei; ſie ſei in einem weißen Kleid aus der dunkeln
Kirchhofmauer hervorgetreten und habe eine weiße und eine
rothe Roſe an der Bruſt ſtecken gehabt; ſie ſei dann in
eine Ecke geſunken, und die Roſen ſeien langſam über ſie
gewachſen, ſie ſei gewiß todt; er ſei ganz ruhig darüber.
Oberlin verſetzte ihm nun, wie er bei dem Tode ſeines
Vaters allein auf dem Felde geweſen ſei, und er dann eine
Stimme gehört habe, ſo daß er wußte, daß ſein Vater todt
ſei, und wie er heimgekommen, ſei es ſo geweſen. Das
führte ſie weiter, Oberlin ſprach noch von den Leuten im
Gebirge, von Mädchen, die das Waſſer und Metall unter
der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berg-
höhen angefaßt würden und mit einem Geiſte rängen; er
ſagte ihm auch, wie er einmal im Gebirge durch das Schauen
in ein leeres tiefes Bergwaſſer in eine Art von Somnam-
bulismus verſetzt worden ſei. Lenz ſagte, daß der Geiſt
des Waſſers über ihn gekommen ſei, daß er dann etwas
von ſeinem eigenthümlichen Sein empfunden hätte. Er fuhr
weiter fort: Die einfachſte, reinſte Natur hinge am nächſten
mit der elementariſchen zuſammen; je feiner der Menſch

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[216/0412] in ihm, er empfand ein leiſes tiefes Mitleid mit ſich ſelbſt, er weinte über ſich, ſein Haupt ſank auf die Bruſt, er ſchlief ein, der Vollmond ſtand am Himmel, die Locken fielen ihm über die Schläfe und das Geſicht, die Thränen hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den Wangen — ſo lag er nun da allein, und Alles war ruhig und ſtill und kalt, und der Mond ſchien die ganze Nacht und ſtand über den Bergen. Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht ſeine Mutter er- ſchienen ſei; ſie ſei in einem weißen Kleid aus der dunkeln Kirchhofmauer hervorgetreten und habe eine weiße und eine rothe Roſe an der Bruſt ſtecken gehabt; ſie ſei dann in eine Ecke geſunken, und die Roſen ſeien langſam über ſie gewachſen, ſie ſei gewiß todt; er ſei ganz ruhig darüber. Oberlin verſetzte ihm nun, wie er bei dem Tode ſeines Vaters allein auf dem Felde geweſen ſei, und er dann eine Stimme gehört habe, ſo daß er wußte, daß ſein Vater todt ſei, und wie er heimgekommen, ſei es ſo geweſen. Das führte ſie weiter, Oberlin ſprach noch von den Leuten im Gebirge, von Mädchen, die das Waſſer und Metall unter der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berg- höhen angefaßt würden und mit einem Geiſte rängen; er ſagte ihm auch, wie er einmal im Gebirge durch das Schauen in ein leeres tiefes Bergwaſſer in eine Art von Somnam- bulismus verſetzt worden ſei. Lenz ſagte, daß der Geiſt des Waſſers über ihn gekommen ſei, daß er dann etwas von ſeinem eigenthümlichen Sein empfunden hätte. Er fuhr weiter fort: Die einfachſte, reinſte Natur hinge am nächſten mit der elementariſchen zuſammen; je feiner der Menſch

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/412>, abgerufen am 19.05.2024.