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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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beispielloser Vielseitigkeit. Sein Leben wird durch die Ge-
schichte seines Volkes bestimmt, und sein Schaffen lockt uns
in Grübelei über Zweck und Ziel und Grenzen der Wissenschaft
und Dichtkunst. Wer von ihm erzählt, dem ist es Pflicht,
mehr zu berichten, als die Geschichte eines einzelnen Menschen.

Georg Büchner wurde am Sonntag den 17. (nicht
wie sich fälschlich angegeben findet, den 13.) October 1813,
dem Schlachttage von Leipzig, zu Goddelau, einem Dorfe
bei Darmstadt geboren, war also einer der letzten und jüng-
sten Unterthanen, die dem Rheinbunde zugewachsen. Seine
erste Kindheit fällt in die drangvollste Zeit, die seinem viel-
geprüften hessischen Heimatländchen beschieden gewesen. Fast
jede Familie hatte einen Angehörigen zu beklagen, der auf
der Leipziger Ebene unter Napoleons Fahne gefallen, der
Rückzug der Franzosen und der Vormarsch der Verbündeten
ging mitten durch das Ländchen, und das Zaudern seines
Fürsten, der sich weder offen vom Imperator abwenden, noch
offen seine Treue für ihn erklären wollte, brachte nur die
Wirkung, daß es von beiden Heeren fast wie Feindesland
betrachtet und behandelt wurde. Die Bevölkerung schwankte
in ihren Sympathieen, fast in jedem Hause standen sich
französisch und deutsch Gesinnte gegenüber, auch an Georgs
Wiege offenbarte sich ein solcher Gegensatz. Die Mutter war
eine glühende deutsche Patriotin, die Körners Schlachtgesänge
mit Begeisterung las und für Blücher schwärmte, der Vater
hingegen hielt mit jeder Faser seines Herzens die Verehrung
für Napoleon fest und konnte selbst an jenen Tag, der ihm
seinen Erstgeborenen geschenkt, nur mit gemischten Gefühlen
zurückdenken: war es ja doch derselbe, an dem sich der
Stern seines irdischen Abgotts zum ersten Male getrübt!

beiſpielloſer Vielſeitigkeit. Sein Leben wird durch die Ge-
ſchichte ſeines Volkes beſtimmt, und ſein Schaffen lockt uns
in Grübelei über Zweck und Ziel und Grenzen der Wiſſenſchaft
und Dichtkunſt. Wer von ihm erzählt, dem iſt es Pflicht,
mehr zu berichten, als die Geſchichte eines einzelnen Menſchen.

Georg Büchner wurde am Sonntag den 17. (nicht
wie ſich fälſchlich angegeben findet, den 13.) October 1813,
dem Schlachttage von Leipzig, zu Goddelau, einem Dorfe
bei Darmſtadt geboren, war alſo einer der letzten und jüng-
ſten Unterthanen, die dem Rheinbunde zugewachſen. Seine
erſte Kindheit fällt in die drangvollſte Zeit, die ſeinem viel-
geprüften heſſiſchen Heimatländchen beſchieden geweſen. Faſt
jede Familie hatte einen Angehörigen zu beklagen, der auf
der Leipziger Ebene unter Napoleons Fahne gefallen, der
Rückzug der Franzoſen und der Vormarſch der Verbündeten
ging mitten durch das Ländchen, und das Zaudern ſeines
Fürſten, der ſich weder offen vom Imperator abwenden, noch
offen ſeine Treue für ihn erklären wollte, brachte nur die
Wirkung, daß es von beiden Heeren faſt wie Feindesland
betrachtet und behandelt wurde. Die Bevölkerung ſchwankte
in ihren Sympathieen, faſt in jedem Hauſe ſtanden ſich
franzöſiſch und deutſch Geſinnte gegenüber, auch an Georgs
Wiege offenbarte ſich ein ſolcher Gegenſatz. Die Mutter war
eine glühende deutſche Patriotin, die Körners Schlachtgeſänge
mit Begeiſterung las und für Blücher ſchwärmte, der Vater
hingegen hielt mit jeder Faſer ſeines Herzens die Verehrung
für Napoleon feſt und konnte ſelbſt an jenen Tag, der ihm
ſeinen Erſtgeborenen geſchenkt, nur mit gemiſchten Gefühlen
zurückdenken: war es ja doch derſelbe, an dem ſich der
Stern ſeines irdiſchen Abgotts zum erſten Male getrübt!

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[V/0021] beiſpielloſer Vielſeitigkeit. Sein Leben wird durch die Ge- ſchichte ſeines Volkes beſtimmt, und ſein Schaffen lockt uns in Grübelei über Zweck und Ziel und Grenzen der Wiſſenſchaft und Dichtkunſt. Wer von ihm erzählt, dem iſt es Pflicht, mehr zu berichten, als die Geſchichte eines einzelnen Menſchen. Georg Büchner wurde am Sonntag den 17. (nicht wie ſich fälſchlich angegeben findet, den 13.) October 1813, dem Schlachttage von Leipzig, zu Goddelau, einem Dorfe bei Darmſtadt geboren, war alſo einer der letzten und jüng- ſten Unterthanen, die dem Rheinbunde zugewachſen. Seine erſte Kindheit fällt in die drangvollſte Zeit, die ſeinem viel- geprüften heſſiſchen Heimatländchen beſchieden geweſen. Faſt jede Familie hatte einen Angehörigen zu beklagen, der auf der Leipziger Ebene unter Napoleons Fahne gefallen, der Rückzug der Franzoſen und der Vormarſch der Verbündeten ging mitten durch das Ländchen, und das Zaudern ſeines Fürſten, der ſich weder offen vom Imperator abwenden, noch offen ſeine Treue für ihn erklären wollte, brachte nur die Wirkung, daß es von beiden Heeren faſt wie Feindesland betrachtet und behandelt wurde. Die Bevölkerung ſchwankte in ihren Sympathieen, faſt in jedem Hauſe ſtanden ſich franzöſiſch und deutſch Geſinnte gegenüber, auch an Georgs Wiege offenbarte ſich ein ſolcher Gegenſatz. Die Mutter war eine glühende deutſche Patriotin, die Körners Schlachtgeſänge mit Begeiſterung las und für Blücher ſchwärmte, der Vater hingegen hielt mit jeder Faſer ſeines Herzens die Verehrung für Napoleon feſt und konnte ſelbſt an jenen Tag, der ihm ſeinen Erſtgeborenen geſchenkt, nur mit gemiſchten Gefühlen zurückdenken: war es ja doch derſelbe, an dem ſich der Stern ſeines irdiſchen Abgotts zum erſten Male getrübt!

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/21>, abgerufen am 24.04.2024.