des Vormittags vor dem Untersuchungsgericht im Darm- städter Arresthause zu erscheinen. In dieser Form waren die meisten Verhaftungen der letzten Tage erfolgt. Büchner wußte, was die Vorladung bedeute. Mit gräßlich ent- stellten Zügen trat er in das Stübchen Wilhelm's, der eben seinen Koffer packte, weil er am Nachmittage nach Butzbach abreisen sollte, um als Practicant in die dortige Apotheke einzutreten. "Sieh' her", sagte er, "das ist mein Todes- urtheil!" Diese Worte erschütterten Wilhelm so tief, daß er sich sofort erbot, statt des Bruders in's Arresthaus zu gehen. Der Gedanke war nicht so abenteuerlich, weil Wil- helm älter aussah, als er war, und weil unter der Vor- ladung der Name eines Beamten stand, der erst kürzlich nach Darmstadt versetzt worden und Georg nicht kannte. Die Brüder verabredeten nun, daß Wilhelm das Verhör bestehen, sich auch einer Verhaftung nicht widersetzen solle; komme er bis zur Mittagsstunde nicht zurück, so solle dies für Georg das Signal zur Flucht sein. Der sechzehnjährige Knabe machte sich beherzt auf den Weg, ward aber, als er im Arresthause die Vorladung vorwies, nicht vor den fremden Beamten geführt, sondern zufällig vor einen Darmstädter Richter, welcher die Brüder sehr genau kannte, da Dr. Büchner sein Hausarzt war. "Was willst Du hier, Wilhelm?" fragte er streng und als nun dieser stammelnd erwiderte, Georg sei krank und er komme, um ihn zu entschuldigen, erwiderte der edle Mann mit scharfer Betonung: "Merke wohl auf! Wenn dein Bruder krank ist, so wollen wir ihm zwei Tage Ruhe gönnen, dann aber muß er in's Arresthaus!" Der Knabe verstand den Sinn dieser Worte, dankte gerührt und eilte erfreut heim. Georg aber gerieth über diesen Bescheid in
des Vormittags vor dem Unterſuchungsgericht im Darm- ſtädter Arreſthauſe zu erſcheinen. In dieſer Form waren die meiſten Verhaftungen der letzten Tage erfolgt. Büchner wußte, was die Vorladung bedeute. Mit gräßlich ent- ſtellten Zügen trat er in das Stübchen Wilhelm's, der eben ſeinen Koffer packte, weil er am Nachmittage nach Butzbach abreiſen ſollte, um als Practicant in die dortige Apotheke einzutreten. "Sieh' her", ſagte er, "das iſt mein Todes- urtheil!" Dieſe Worte erſchütterten Wilhelm ſo tief, daß er ſich ſofort erbot, ſtatt des Bruders in's Arreſthaus zu gehen. Der Gedanke war nicht ſo abenteuerlich, weil Wil- helm älter ausſah, als er war, und weil unter der Vor- ladung der Name eines Beamten ſtand, der erſt kürzlich nach Darmſtadt verſetzt worden und Georg nicht kannte. Die Brüder verabredeten nun, daß Wilhelm das Verhör beſtehen, ſich auch einer Verhaftung nicht widerſetzen ſolle; komme er bis zur Mittagsſtunde nicht zurück, ſo ſolle dies für Georg das Signal zur Flucht ſein. Der ſechzehnjährige Knabe machte ſich beherzt auf den Weg, ward aber, als er im Arreſthauſe die Vorladung vorwies, nicht vor den fremden Beamten geführt, ſondern zufällig vor einen Darmſtädter Richter, welcher die Brüder ſehr genau kannte, da Dr. Büchner ſein Hausarzt war. "Was willſt Du hier, Wilhelm?" fragte er ſtreng und als nun dieſer ſtammelnd erwiderte, Georg ſei krank und er komme, um ihn zu entſchuldigen, erwiderte der edle Mann mit ſcharfer Betonung: "Merke wohl auf! Wenn dein Bruder krank iſt, ſo wollen wir ihm zwei Tage Ruhe gönnen, dann aber muß er in's Arreſthaus!" Der Knabe verſtand den Sinn dieſer Worte, dankte gerührt und eilte erfreut heim. Georg aber gerieth über dieſen Beſcheid in
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[CLX/0176]
des Vormittags vor dem Unterſuchungsgericht im Darm-
ſtädter Arreſthauſe zu erſcheinen. In dieſer Form waren
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wußte, was die Vorladung bedeute. Mit gräßlich ent-
ſtellten Zügen trat er in das Stübchen Wilhelm's, der eben
ſeinen Koffer packte, weil er am Nachmittage nach Butzbach
abreiſen ſollte, um als Practicant in die dortige Apotheke
einzutreten. "Sieh' her", ſagte er, "das iſt mein Todes-
urtheil!" Dieſe Worte erſchütterten Wilhelm ſo tief, daß
er ſich ſofort erbot, ſtatt des Bruders in's Arreſthaus zu
gehen. Der Gedanke war nicht ſo abenteuerlich, weil Wil-
helm älter ausſah, als er war, und weil unter der Vor-
ladung der Name eines Beamten ſtand, der erſt kürzlich nach
Darmſtadt verſetzt worden und Georg nicht kannte. Die
Brüder verabredeten nun, daß Wilhelm das Verhör beſtehen,
ſich auch einer Verhaftung nicht widerſetzen ſolle; komme er
bis zur Mittagsſtunde nicht zurück, ſo ſolle dies für Georg
das Signal zur Flucht ſein. Der ſechzehnjährige Knabe
machte ſich beherzt auf den Weg, ward aber, als er im
Arreſthauſe die Vorladung vorwies, nicht vor den fremden
Beamten geführt, ſondern zufällig vor einen Darmſtädter
Richter, welcher die Brüder ſehr genau kannte, da Dr. Büchner
ſein Hausarzt war. "Was willſt Du hier, Wilhelm?" fragte
er ſtreng und als nun dieſer ſtammelnd erwiderte, Georg
ſei krank und er komme, um ihn zu entſchuldigen, erwiderte der
edle Mann mit ſcharfer Betonung: "Merke wohl auf! Wenn
dein Bruder krank iſt, ſo wollen wir ihm zwei Tage Ruhe
gönnen, dann aber muß er in's Arreſthaus!" Der Knabe
verſtand den Sinn dieſer Worte, dankte gerührt und eilte
erfreut heim. Georg aber gerieth über dieſen Beſcheid in
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. CLX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/176>, abgerufen am 23.11.2024.
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