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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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kleidern und seinem Hemde einen Pack "Landboten" hervor,
einen anderen Pack trennte er aus der Rocktasche, woselbst
er eingenäht war, los, und aus jedem seiner Stiefel ent-
wickelte er den übrigen Theil der Exemplare dieser Schrift,
von welchen er nicht weniger als 139 mit sich hatte". Es
ist selbstverständlich, daß ihm diese Verantwortung, welche
naiv genug auf Punkt 4 des Vorberichts zum "Landboten"
basirte, nichts nützen konnte -- der zwanzigjährige, talentvolle
Jüngling wurde in Haft behalten, aus welcher er erst nach
drei Jahren, und nachdem ihn die unsäglichen Kerkerqualen
wahnsinnig und todtkrank gemacht, durch die "Gnade" seines
Fürsten entlassen werden sollte. Er lebt jetzt als Prediger
in Amerika.

Georg Büchner hatte es mit eigenen Augen mitange-
sehen, wie sie den verhafteten Freund an seinem Fenster
vorbei vor den Richter schleppten. Er kannte Minnigerode's
Mission und wußte daher sofort, daß mit ihm auch der
"Landbote" der Polizei in die Hände gefallen. Aber nur einige
Augenblicke lähmte ihn das Entsetzen. An eine verrätherische
Denunciation mochte er nicht glauben, er war fest überzeugt,
daß hier nur ein verhängnißvoller Zufall gewaltet, daß Min-
nigerode, welcher sich aus jugendlicher Renommisterei mit den
Exemplaren förmlich auszustopfen pflegte, obwohl sie im Fond
seines Wägelchens ebenso sicher oder unsicher verwahrt gewesen
wären, vielleicht durch seine unförmliche Leibesgestalt den
Accisewächtern am Thor verdächtig geworden, so daß diese
bei der Untersuchung zu ihrem eigenen Erstaunen, statt ein-
geschmuggelter Lebensmittel, hochverrätherische Schriften vor-
gefunden. Dem mochte nun sein, wie es wolle -- daran
konnte Büchner nicht zweifeln, daß man nun jeden neuen

G. Büchners Werke. i

kleidern und ſeinem Hemde einen Pack "Landboten" hervor,
einen anderen Pack trennte er aus der Rocktaſche, woſelbſt
er eingenäht war, los, und aus jedem ſeiner Stiefel ent-
wickelte er den übrigen Theil der Exemplare dieſer Schrift,
von welchen er nicht weniger als 139 mit ſich hatte". Es
iſt ſelbſtverſtändlich, daß ihm dieſe Verantwortung, welche
naiv genug auf Punkt 4 des Vorberichts zum "Landboten"
baſirte, nichts nützen konnte — der zwanzigjährige, talentvolle
Jüngling wurde in Haft behalten, aus welcher er erſt nach
drei Jahren, und nachdem ihn die unſäglichen Kerkerqualen
wahnſinnig und todtkrank gemacht, durch die "Gnade" ſeines
Fürſten entlaſſen werden ſollte. Er lebt jetzt als Prediger
in Amerika.

Georg Büchner hatte es mit eigenen Augen mitange-
ſehen, wie ſie den verhafteten Freund an ſeinem Fenſter
vorbei vor den Richter ſchleppten. Er kannte Minnigerode's
Miſſion und wußte daher ſofort, daß mit ihm auch der
"Landbote" der Polizei in die Hände gefallen. Aber nur einige
Augenblicke lähmte ihn das Entſetzen. An eine verrätheriſche
Denunciation mochte er nicht glauben, er war feſt überzeugt,
daß hier nur ein verhängnißvoller Zufall gewaltet, daß Min-
nigerode, welcher ſich aus jugendlicher Renommiſterei mit den
Exemplaren förmlich auszuſtopfen pflegte, obwohl ſie im Fond
ſeines Wägelchens ebenſo ſicher oder unſicher verwahrt geweſen
wären, vielleicht durch ſeine unförmliche Leibesgeſtalt den
Acciſewächtern am Thor verdächtig geworden, ſo daß dieſe
bei der Unterſuchung zu ihrem eigenen Erſtaunen, ſtatt ein-
geſchmuggelter Lebensmittel, hochverrätheriſche Schriften vor-
gefunden. Dem mochte nun ſein, wie es wolle — daran
konnte Büchner nicht zweifeln, daß man nun jeden neuen

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[CXXIX/0145] kleidern und ſeinem Hemde einen Pack "Landboten" hervor, einen anderen Pack trennte er aus der Rocktaſche, woſelbſt er eingenäht war, los, und aus jedem ſeiner Stiefel ent- wickelte er den übrigen Theil der Exemplare dieſer Schrift, von welchen er nicht weniger als 139 mit ſich hatte". Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß ihm dieſe Verantwortung, welche naiv genug auf Punkt 4 des Vorberichts zum "Landboten" baſirte, nichts nützen konnte — der zwanzigjährige, talentvolle Jüngling wurde in Haft behalten, aus welcher er erſt nach drei Jahren, und nachdem ihn die unſäglichen Kerkerqualen wahnſinnig und todtkrank gemacht, durch die "Gnade" ſeines Fürſten entlaſſen werden ſollte. Er lebt jetzt als Prediger in Amerika. Georg Büchner hatte es mit eigenen Augen mitange- ſehen, wie ſie den verhafteten Freund an ſeinem Fenſter vorbei vor den Richter ſchleppten. Er kannte Minnigerode's Miſſion und wußte daher ſofort, daß mit ihm auch der "Landbote" der Polizei in die Hände gefallen. Aber nur einige Augenblicke lähmte ihn das Entſetzen. An eine verrätheriſche Denunciation mochte er nicht glauben, er war feſt überzeugt, daß hier nur ein verhängnißvoller Zufall gewaltet, daß Min- nigerode, welcher ſich aus jugendlicher Renommiſterei mit den Exemplaren förmlich auszuſtopfen pflegte, obwohl ſie im Fond ſeines Wägelchens ebenſo ſicher oder unſicher verwahrt geweſen wären, vielleicht durch ſeine unförmliche Leibesgeſtalt den Acciſewächtern am Thor verdächtig geworden, ſo daß dieſe bei der Unterſuchung zu ihrem eigenen Erſtaunen, ſtatt ein- geſchmuggelter Lebensmittel, hochverrätheriſche Schriften vor- gefunden. Dem mochte nun ſein, wie es wolle — daran konnte Büchner nicht zweifeln, daß man nun jeden neuen G. Büchners Werke. i

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. CXXIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/145>, abgerufen am 24.11.2024.