der Schnelligkeit des Gedanken's einander Mittheilungen machen. Solchen Thaten gegenüber muß die Mißgunst schweigen, und die Zeiten sind vorüber, in denen eine von der Phantasie trüglich vorgespiegelte Welt den Men- schen mehr galt, als die wirkliche. Mögen auch Manche die Gesichter noch so scheinheilig verziehen, es ist ihnen nicht Ernst darum; in dem, was sie thun, zeigt sich das Gegentheil von dem, was sie reden. Niemand geißelt, Niemand kreuzigt sich mehr; Niemand sucht zu entbehren, statt zu genießen. Aber Jeder hascht und jagt mit den besten Kräften seines Lebens nach den ma- teriellen Gütern und Besitzthümern der Erde, nach den Freuden und Genüssen, welche ihm der tausendfach ver- feinerte und veredelte Stoff bietet. "Die Heuchelei der Selbstbethörung", sagt Feuerbach, "ist das Grundlaster der Gegenwart."
Jm Mittelalter, in dieser wüsten Zeit roher Adels- willkühr und fanatischer Pfaffenherrschaft, hatten es an- gebliche Diener Gottes so weit gebracht, daß man dem Stoff eine consequente Verachtung bewies und den eignen Leib, das edle Bildwerk der Natur, an den Schandpfahl nagelte. Einige kreuzigten, Andere marterten sich; Haufen von Flagellanten durchzogen das Land, ihre sch<supplied>reck</supplied>lich zerfleischten Leiber zur öffentlichen Schau trage<supplied>nd; au</supplied>f raffinirte Weise suchte man sich um Kraft und Gesund- heit zu bringen, um dem Geiste, den man als etwas
der Schnelligkeit des Gedanken’s einander Mittheilungen machen. Solchen Thaten gegenüber muß die Mißgunſt ſchweigen, und die Zeiten ſind vorüber, in denen eine von der Phantaſie trüglich vorgeſpiegelte Welt den Men- ſchen mehr galt, als die wirkliche. Mögen auch Manche die Geſichter noch ſo ſcheinheilig verziehen, es iſt ihnen nicht Ernſt darum; in dem, was ſie thun, zeigt ſich das Gegentheil von dem, was ſie reden. Niemand geißelt, Niemand kreuzigt ſich mehr; Niemand ſucht zu entbehren, ſtatt zu genießen. Aber Jeder haſcht und jagt mit den beſten Kräften ſeines Lebens nach den ma- teriellen Gütern und Beſitzthümern der Erde, nach den Freuden und Genüſſen, welche ihm der tauſendfach ver- feinerte und veredelte Stoff bietet. „Die Heuchelei der Selbſtbethörung‟, ſagt Feuerbach, „iſt das Grundlaſter der Gegenwart.‟
Jm Mittelalter, in dieſer wüſten Zeit roher Adels- willkühr und fanatiſcher Pfaffenherrſchaft, hatten es an- gebliche Diener Gottes ſo weit gebracht, daß man dem Stoff eine conſequente Verachtung bewies und den eignen Leib, das edle Bildwerk der Natur, an den Schandpfahl nagelte. Einige kreuzigten, Andere marterten ſich; Haufen von Flagellanten durchzogen das Land, ihre ſch<supplied>reck</supplied>lich zerfleiſchten Leiber zur öffentlichen Schau trage<supplied>nd; au</supplied>f raffinirte Weiſe ſuchte man ſich um Kraft und Geſund- heit zu bringen, um dem Geiſte, den man als etwas
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[27/0047]
der Schnelligkeit des Gedanken’s einander Mittheilungen
machen. Solchen Thaten gegenüber muß die Mißgunſt
ſchweigen, und die Zeiten ſind vorüber, in denen eine
von der Phantaſie trüglich vorgeſpiegelte Welt den Men-
ſchen mehr galt, als die wirkliche. Mögen auch Manche
die Geſichter noch ſo ſcheinheilig verziehen, es iſt ihnen
nicht Ernſt darum; in dem, was ſie thun, zeigt ſich
das Gegentheil von dem, was ſie reden. Niemand
geißelt, Niemand kreuzigt ſich mehr; Niemand ſucht zu
entbehren, ſtatt zu genießen. Aber Jeder haſcht und
jagt mit den beſten Kräften ſeines Lebens nach den ma-
teriellen Gütern und Beſitzthümern der Erde, nach den
Freuden und Genüſſen, welche ihm der tauſendfach ver-
feinerte und veredelte Stoff bietet. „Die Heuchelei der
Selbſtbethörung‟, ſagt Feuerbach, „iſt das Grundlaſter
der Gegenwart.‟
Jm Mittelalter, in dieſer wüſten Zeit roher Adels-
willkühr und fanatiſcher Pfaffenherrſchaft, hatten es an-
gebliche Diener Gottes ſo weit gebracht, daß man dem
Stoff eine conſequente Verachtung bewies und den eignen
Leib, das edle Bildwerk der Natur, an den Schandpfahl
nagelte. Einige kreuzigten, Andere marterten ſich; Haufen
von Flagellanten durchzogen das Land, ihre ſch<supplied>reck</supplied>lich
zerfleiſchten Leiber zur öffentlichen Schau trage<supplied>nd; au</supplied>f
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/47>, abgerufen am 29.03.2024.
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