gegnen, ihm aus dem Wege zu gehen, ohne gegen das positive Gesetz zu verstoßen; der Ungebildete weiß sich nicht anders, als durch ein Verbrechen zu helfen; er ist ein Opfer seiner Verhältnisse. Was thut der freie Wille bei dem, welcher aus Noth stiehlt, raubt, mordet! Wie hoch beläuft sich die Zurechnungsfähigkeit eines Menschen, dessen Zerstörungstrieb, dessen Anlage zur Grausamkeit groß und dessen Verstandeskräfte klein sind! Mangel an Verstand, Armuth und Mangel an Bildung sind die drei großen verbrechenzeugenden Faktoren. Darum be- trachte man einen Verbrecher mehr als einen Unglück- lichen, denn als einen Verabscheuungswürdigen! Und man verlange so wenig von einzelnen Menschen, daß sie moralische Muster seien, als man von Andern verlangt, daß sie Philosophen sein sollen! -- Und endlich sehe man sich doch einmal etwas genauer in der menschlichen Gesellschaft selbst um, mag es oben oder unten, vor Zeiten oder heute sein, und frage sich, ob denn dieselbe nach moralischen Antrieben handelt oder nicht. Jst sie denn nicht in der That ein bellum omnium contra omnes? Ein allgemeines Weltrennen, in welchem jeder den Andern auf jede mögliche Weise zu überholen, ja zu vernichten trachtet? Könnte man sie nicht beinahe schildern, wie Burmeister die Brasilianer schildert: Jeder thut, was er glaubt ungestraft thun zu können, betrügt, über- vortheilt, hintergeht und benützt den Andern, so gut er
gegnen, ihm aus dem Wege zu gehen, ohne gegen das poſitive Geſetz zu verſtoßen; der Ungebildete weiß ſich nicht anders, als durch ein Verbrechen zu helfen; er iſt ein Opfer ſeiner Verhältniſſe. Was thut der freie Wille bei dem, welcher aus Noth ſtiehlt, raubt, mordet! Wie hoch beläuft ſich die Zurechnungsfähigkeit eines Menſchen, deſſen Zerſtörungstrieb, deſſen Anlage zur Grauſamkeit groß und deſſen Verſtandeskräfte klein ſind! Mangel an Verſtand, Armuth und Mangel an Bildung ſind die drei großen verbrechenzeugenden Faktoren. Darum be- trachte man einen Verbrecher mehr als einen Unglück- lichen, denn als einen Verabſcheuungswürdigen! Und man verlange ſo wenig von einzelnen Menſchen, daß ſie moraliſche Muſter ſeien, als man von Andern verlangt, daß ſie Philoſophen ſein ſollen! — Und endlich ſehe man ſich doch einmal etwas genauer in der menſchlichen Geſellſchaft ſelbſt um, mag es oben oder unten, vor Zeiten oder heute ſein, und frage ſich, ob denn dieſelbe nach moraliſchen Antrieben handelt oder nicht. Jſt ſie denn nicht in der That ein bellum omnium contra omnes? Ein allgemeines Weltrennen, in welchem jeder den Andern auf jede mögliche Weiſe zu überholen, ja zu vernichten trachtet? Könnte man ſie nicht beinahe ſchildern, wie Burmeiſter die Braſilianer ſchildert: Jeder thut, was er glaubt ungeſtraft thun zu können, betrügt, über- vortheilt, hintergeht und benützt den Andern, ſo gut er
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0276"n="256"/>
gegnen, ihm aus dem Wege zu gehen, ohne gegen das<lb/>
poſitive Geſetz zu verſtoßen; der Ungebildete weiß ſich<lb/>
nicht anders, als durch ein Verbrechen zu helfen; er iſt<lb/>
ein Opfer ſeiner Verhältniſſe. Was thut der freie Wille<lb/>
bei dem, welcher aus Noth ſtiehlt, raubt, mordet! Wie<lb/>
hoch beläuft ſich die Zurechnungsfähigkeit eines Menſchen,<lb/>
deſſen Zerſtörungstrieb, deſſen Anlage zur Grauſamkeit<lb/>
groß und deſſen Verſtandeskräfte klein ſind! Mangel an<lb/>
Verſtand, Armuth und Mangel an Bildung ſind die<lb/>
drei großen verbrechenzeugenden Faktoren. Darum be-<lb/>
trachte man einen Verbrecher mehr als einen Unglück-<lb/>
lichen, denn als einen Verabſcheuungswürdigen! Und<lb/>
man verlange ſo wenig von einzelnen Menſchen, daß ſie<lb/>
moraliſche Muſter ſeien, als man von Andern verlangt,<lb/>
daß ſie Philoſophen ſein ſollen! — Und endlich ſehe<lb/>
man ſich doch einmal etwas genauer in der menſchlichen<lb/>
Geſellſchaft ſelbſt um, mag es oben oder unten, vor<lb/>
Zeiten oder heute ſein, und frage ſich, ob denn dieſelbe<lb/>
nach moraliſchen Antrieben handelt oder nicht. Jſt ſie<lb/>
denn nicht in der That ein <hirendition="#aq">bellum omnium contra<lb/>
omnes?</hi> Ein allgemeines Weltrennen, in welchem jeder<lb/>
den Andern auf jede mögliche Weiſe zu überholen, ja zu<lb/>
vernichten trachtet? Könnte man ſie nicht beinahe ſchildern,<lb/>
wie <hirendition="#g">Burmeiſter</hi> die Braſilianer ſchildert: Jeder thut,<lb/>
was er glaubt ungeſtraft thun zu können, betrügt, über-<lb/>
vortheilt, hintergeht und benützt den Andern, ſo gut er<lb/></p></div></body></text></TEI>
[256/0276]
gegnen, ihm aus dem Wege zu gehen, ohne gegen das
poſitive Geſetz zu verſtoßen; der Ungebildete weiß ſich
nicht anders, als durch ein Verbrechen zu helfen; er iſt
ein Opfer ſeiner Verhältniſſe. Was thut der freie Wille
bei dem, welcher aus Noth ſtiehlt, raubt, mordet! Wie
hoch beläuft ſich die Zurechnungsfähigkeit eines Menſchen,
deſſen Zerſtörungstrieb, deſſen Anlage zur Grauſamkeit
groß und deſſen Verſtandeskräfte klein ſind! Mangel an
Verſtand, Armuth und Mangel an Bildung ſind die
drei großen verbrechenzeugenden Faktoren. Darum be-
trachte man einen Verbrecher mehr als einen Unglück-
lichen, denn als einen Verabſcheuungswürdigen! Und
man verlange ſo wenig von einzelnen Menſchen, daß ſie
moraliſche Muſter ſeien, als man von Andern verlangt,
daß ſie Philoſophen ſein ſollen! — Und endlich ſehe
man ſich doch einmal etwas genauer in der menſchlichen
Geſellſchaft ſelbſt um, mag es oben oder unten, vor
Zeiten oder heute ſein, und frage ſich, ob denn dieſelbe
nach moraliſchen Antrieben handelt oder nicht. Jſt ſie
denn nicht in der That ein bellum omnium contra
omnes? Ein allgemeines Weltrennen, in welchem jeder
den Andern auf jede mögliche Weiſe zu überholen, ja zu
vernichten trachtet? Könnte man ſie nicht beinahe ſchildern,
wie Burmeiſter die Braſilianer ſchildert: Jeder thut,
was er glaubt ungeſtraft thun zu können, betrügt, über-
vortheilt, hintergeht und benützt den Andern, ſo gut er
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/276>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.