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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855.

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gegnen, ihm aus dem Wege zu gehen, ohne gegen das
positive Gesetz zu verstoßen; der Ungebildete weiß sich
nicht anders, als durch ein Verbrechen zu helfen; er ist
ein Opfer seiner Verhältnisse. Was thut der freie Wille
bei dem, welcher aus Noth stiehlt, raubt, mordet! Wie
hoch beläuft sich die Zurechnungsfähigkeit eines Menschen,
dessen Zerstörungstrieb, dessen Anlage zur Grausamkeit
groß und dessen Verstandeskräfte klein sind! Mangel an
Verstand, Armuth und Mangel an Bildung sind die
drei großen verbrechenzeugenden Faktoren. Darum be-
trachte man einen Verbrecher mehr als einen Unglück-
lichen, denn als einen Verabscheuungswürdigen! Und
man verlange so wenig von einzelnen Menschen, daß sie
moralische Muster seien, als man von Andern verlangt,
daß sie Philosophen sein sollen! -- Und endlich sehe
man sich doch einmal etwas genauer in der menschlichen
Gesellschaft selbst um, mag es oben oder unten, vor
Zeiten oder heute sein, und frage sich, ob denn dieselbe
nach moralischen Antrieben handelt oder nicht. Jst sie
denn nicht in der That ein bellum omnium contra
omnes?
Ein allgemeines Weltrennen, in welchem jeder
den Andern auf jede mögliche Weise zu überholen, ja zu
vernichten trachtet? Könnte man sie nicht beinahe schildern,
wie Burmeister die Brasilianer schildert: Jeder thut,
was er glaubt ungestraft thun zu können, betrügt, über-
vortheilt, hintergeht und benützt den Andern, so gut er

gegnen, ihm aus dem Wege zu gehen, ohne gegen das
poſitive Geſetz zu verſtoßen; der Ungebildete weiß ſich
nicht anders, als durch ein Verbrechen zu helfen; er iſt
ein Opfer ſeiner Verhältniſſe. Was thut der freie Wille
bei dem, welcher aus Noth ſtiehlt, raubt, mordet! Wie
hoch beläuft ſich die Zurechnungsfähigkeit eines Menſchen,
deſſen Zerſtörungstrieb, deſſen Anlage zur Grauſamkeit
groß und deſſen Verſtandeskräfte klein ſind! Mangel an
Verſtand, Armuth und Mangel an Bildung ſind die
drei großen verbrechenzeugenden Faktoren. Darum be-
trachte man einen Verbrecher mehr als einen Unglück-
lichen, denn als einen Verabſcheuungswürdigen! Und
man verlange ſo wenig von einzelnen Menſchen, daß ſie
moraliſche Muſter ſeien, als man von Andern verlangt,
daß ſie Philoſophen ſein ſollen! — Und endlich ſehe
man ſich doch einmal etwas genauer in der menſchlichen
Geſellſchaft ſelbſt um, mag es oben oder unten, vor
Zeiten oder heute ſein, und frage ſich, ob denn dieſelbe
nach moraliſchen Antrieben handelt oder nicht. Jſt ſie
denn nicht in der That ein bellum omnium contra
omnes?
Ein allgemeines Weltrennen, in welchem jeder
den Andern auf jede mögliche Weiſe zu überholen, ja zu
vernichten trachtet? Könnte man ſie nicht beinahe ſchildern,
wie Burmeiſter die Braſilianer ſchildert: Jeder thut,
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[256/0276] gegnen, ihm aus dem Wege zu gehen, ohne gegen das poſitive Geſetz zu verſtoßen; der Ungebildete weiß ſich nicht anders, als durch ein Verbrechen zu helfen; er iſt ein Opfer ſeiner Verhältniſſe. Was thut der freie Wille bei dem, welcher aus Noth ſtiehlt, raubt, mordet! Wie hoch beläuft ſich die Zurechnungsfähigkeit eines Menſchen, deſſen Zerſtörungstrieb, deſſen Anlage zur Grauſamkeit groß und deſſen Verſtandeskräfte klein ſind! Mangel an Verſtand, Armuth und Mangel an Bildung ſind die drei großen verbrechenzeugenden Faktoren. Darum be- trachte man einen Verbrecher mehr als einen Unglück- lichen, denn als einen Verabſcheuungswürdigen! Und man verlange ſo wenig von einzelnen Menſchen, daß ſie moraliſche Muſter ſeien, als man von Andern verlangt, daß ſie Philoſophen ſein ſollen! — Und endlich ſehe man ſich doch einmal etwas genauer in der menſchlichen Geſellſchaft ſelbſt um, mag es oben oder unten, vor Zeiten oder heute ſein, und frage ſich, ob denn dieſelbe nach moraliſchen Antrieben handelt oder nicht. Jſt ſie denn nicht in der That ein bellum omnium contra omnes? Ein allgemeines Weltrennen, in welchem jeder den Andern auf jede mögliche Weiſe zu überholen, ja zu vernichten trachtet? Könnte man ſie nicht beinahe ſchildern, wie Burmeiſter die Braſilianer ſchildert: Jeder thut, was er glaubt ungeſtraft thun zu können, betrügt, über- vortheilt, hintergeht und benützt den Andern, ſo gut er

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Zitationshilfe: Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/276>, abgerufen am 22.11.2024.