uns doch nur an unsere allerjüngsten Erfahrungen und bedenken wir, daß uns erst seit wenigen Jahren eine Menge Vorgänge klar geworden sind, die früher in ihrer Unerklärlichkeit als die wirksamste Stütze für wunderbar- liche Lebenskräfte angesehen wurden. Wie lange ist es her, daß man den Chemismus der Respiration oder der Verdauung kennt, oder daß die Vorgänge der Zeugung und Befruchtung aus ihrem mystischen Dunkel heraus- getreten sind und als solche erkannt wurden, welche sich den einfachen und mechanischen Vorgängen der anorgani- schen Welt an die Seite stellen! Der Samen stellte sich nicht mehr als eine belebte und belebenden Dunst aus- strömende Flüssigkeit, sondern als eine auf mechanische Weise mit Hülfe s. g. Samenthierchen sich voranbewegende Materie dar, und was man vorher als unerklärliche Wirkung jenes belebenden Dunstes angesehen hatte, löste sich in eine unmittelbare und auf mechanische Weise zu Stande kommende Berührung von Ei und Samen auf. Wie viele Vorgänge des thierischen Körpers, so die Heraufbeförderung kleiner Stofftheilchen auf Schleim- häuten und nach Außen, entgegen dem Gesetze der Schwere, schienen unerklärlich und die Annahme einer Lebenskraft zu rechtfertigen, bis man das interessante Phänomen der s. g. Flimmerbewegung, eines auf rein mechanischen Principien beruhenden Vorgangs, entdeckte. Welches Licht fiel auf die wunderbaren Vorgänge im Blut seit
Büchner, Kraft und Stoff. 15
uns doch nur an unſere allerjüngſten Erfahrungen und bedenken wir, daß uns erſt ſeit wenigen Jahren eine Menge Vorgänge klar geworden ſind, die früher in ihrer Unerklärlichkeit als die wirkſamſte Stütze für wunderbar- liche Lebenskräfte angeſehen wurden. Wie lange iſt es her, daß man den Chemismus der Reſpiration oder der Verdauung kennt, oder daß die Vorgänge der Zeugung und Befruchtung aus ihrem myſtiſchen Dunkel heraus- getreten ſind und als ſolche erkannt wurden, welche ſich den einfachen und mechaniſchen Vorgängen der anorgani- ſchen Welt an die Seite ſtellen! Der Samen ſtellte ſich nicht mehr als eine belebte und belebenden Dunſt aus- ſtrömende Flüſſigkeit, ſondern als eine auf mechaniſche Weiſe mit Hülfe ſ. g. Samenthierchen ſich voranbewegende Materie dar, und was man vorher als unerklärliche Wirkung jenes belebenden Dunſtes angeſehen hatte, löſte ſich in eine unmittelbare und auf mechaniſche Weiſe zu Stande kommende Berührung von Ei und Samen auf. Wie viele Vorgänge des thieriſchen Körpers, ſo die Heraufbeförderung kleiner Stofftheilchen auf Schleim- häuten und nach Außen, entgegen dem Geſetze der Schwere, ſchienen unerklärlich und die Annahme einer Lebenskraft zu rechtfertigen, bis man das intereſſante Phänomen der ſ. g. Flimmerbewegung, eines auf rein mechaniſchen Principien beruhenden Vorgangs, entdeckte. Welches Licht fiel auf die wunderbaren Vorgänge im Blut ſeit
Büchner, Kraft und Stoff. 15
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uns doch nur an unſere allerjüngſten Erfahrungen und
bedenken wir, daß uns erſt ſeit wenigen Jahren eine
Menge Vorgänge klar geworden ſind, die früher in ihrer
Unerklärlichkeit als die wirkſamſte Stütze für wunderbar-
liche Lebenskräfte angeſehen wurden. Wie lange iſt es
her, daß man den Chemismus der Reſpiration oder der
Verdauung kennt, oder daß die Vorgänge der Zeugung
und Befruchtung aus ihrem myſtiſchen Dunkel heraus-
getreten ſind und als ſolche erkannt wurden, welche ſich
den einfachen und mechaniſchen Vorgängen der anorgani-
ſchen Welt an die Seite ſtellen! Der Samen ſtellte ſich
nicht mehr als eine belebte und belebenden Dunſt aus-
ſtrömende Flüſſigkeit, ſondern als eine auf mechaniſche
Weiſe mit Hülfe ſ. g. Samenthierchen ſich voranbewegende
Materie dar, und was man vorher als unerklärliche
Wirkung jenes belebenden Dunſtes angeſehen hatte, löſte
ſich in eine unmittelbare und auf mechaniſche Weiſe zu
Stande kommende Berührung von Ei und Samen auf.
Wie viele Vorgänge des thieriſchen Körpers, ſo die
Heraufbeförderung kleiner Stofftheilchen auf Schleim-
häuten und nach Außen, entgegen dem Geſetze der Schwere,
ſchienen unerklärlich und die Annahme einer Lebenskraft
zu rechtfertigen, bis man das intereſſante Phänomen der
ſ. g. Flimmerbewegung, eines auf rein mechaniſchen
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/245>, abgerufen am 25.11.2024.
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