wundern, daß eine solche Lehre in einem Volke entstehen konnte, das unter seinen Geistesheroen einen Luther zählt, den Sohn eines Bergmanns, einen Kant, den Sohn eines Sattlers, einen Fichte, den Sohn eines armen Dorfleine- webers, einen Gauß, den Sohn eines Gärtners, um von vielen andern zu geschweigen.
Es gibt eine alte Anekdote von einem Kardinal, dessen Vater die Schweine gehütet hatte und von einem adelsstolzen französischen Gesandten. In einer schwierigen Unterhand- lung, in welcher der Kardinal mit Geschick und Hartnäckigkeit die Interessen der Kirche vertrat, ließ sich der Gesandte hinreißen, jenem seinen Ursprung vorzuwerfen. Der Kardinal antwortete: "Es ist richtig, daß mein Vater die Schweine gehütet hat; aber wenn Ihr Vater sie gehütet hätte, so würden Sie sie auch hüten".
Diese kleine Erzählung hat vielleicht besser ausgesprochen, als eine lange Auseinandersetzung es vermöchte, was die Beobachtung vieler Generationen bestätigt hat, daß Tugenden, welche die Väter emporbringen, sich nicht in der Regel auf Enkel und Urenkel fortsetzen und daß, wenn der Beruf sich auch forterbt, doch die Fähigkeit zu seiner Ausübung schwindet. Jede Aristokratie, mag sie Besitzes- oder Berufs- aristokratie sein, entartet im Laufe der Zeit, wie die Pflanze entartet, die in zu üppigem Boden wächst. Es braucht dabei noch gar nicht einmal an ein sittliches Verkommen gedacht zu werden; es genügt, daß die körperlichen und geistigen Kräfte abnehmen, daß die Prokreation schwächer
wundern, daß eine ſolche Lehre in einem Volke entſtehen konnte, das unter ſeinen Geiſtesheroen einen Luther zählt, den Sohn eines Bergmanns, einen Kant, den Sohn eines Sattlers, einen Fichte, den Sohn eines armen Dorfleine- webers, einen Gauß, den Sohn eines Gärtners, um von vielen andern zu geſchweigen.
Es gibt eine alte Anekdote von einem Kardinal, deſſen Vater die Schweine gehütet hatte und von einem adelsſtolzen franzöſiſchen Geſandten. In einer ſchwierigen Unterhand- lung, in welcher der Kardinal mit Geſchick und Hartnäckigkeit die Intereſſen der Kirche vertrat, ließ ſich der Geſandte hinreißen, jenem ſeinen Urſprung vorzuwerfen. Der Kardinal antwortete: „Es iſt richtig, daß mein Vater die Schweine gehütet hat; aber wenn Ihr Vater ſie gehütet hätte, ſo würden Sie ſie auch hüten“.
Dieſe kleine Erzählung hat vielleicht beſſer ausgeſprochen, als eine lange Auseinanderſetzung es vermöchte, was die Beobachtung vieler Generationen beſtätigt hat, daß Tugenden, welche die Väter emporbringen, ſich nicht in der Regel auf Enkel und Urenkel fortſetzen und daß, wenn der Beruf ſich auch forterbt, doch die Fähigkeit zu ſeiner Ausübung ſchwindet. Jede Ariſtokratie, mag ſie Beſitzes- oder Berufs- ariſtokratie ſein, entartet im Laufe der Zeit, wie die Pflanze entartet, die in zu üppigem Boden wächſt. Es braucht dabei noch gar nicht einmal an ein ſittliches Verkommen gedacht zu werden; es genügt, daß die körperlichen und geiſtigen Kräfte abnehmen, daß die Prokreation ſchwächer
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wundern, daß eine ſolche Lehre in einem Volke entſtehen
konnte, das unter ſeinen Geiſtesheroen einen Luther zählt,
den Sohn eines Bergmanns, einen Kant, den Sohn eines
Sattlers, einen Fichte, den Sohn eines armen Dorfleine-
webers, einen Gauß, den Sohn eines Gärtners, um von
vielen andern zu geſchweigen.
Es gibt eine alte Anekdote von einem Kardinal, deſſen
Vater die Schweine gehütet hatte und von einem adelsſtolzen
franzöſiſchen Geſandten. In einer ſchwierigen Unterhand-
lung, in welcher der Kardinal mit Geſchick und Hartnäckigkeit
die Intereſſen der Kirche vertrat, ließ ſich der Geſandte
hinreißen, jenem ſeinen Urſprung vorzuwerfen. Der Kardinal
antwortete: „Es iſt richtig, daß mein Vater die Schweine
gehütet hat; aber wenn Ihr Vater ſie gehütet hätte, ſo
würden Sie ſie auch hüten“.
Dieſe kleine Erzählung hat vielleicht beſſer ausgeſprochen,
als eine lange Auseinanderſetzung es vermöchte, was die
Beobachtung vieler Generationen beſtätigt hat, daß Tugenden,
welche die Väter emporbringen, ſich nicht in der Regel
auf Enkel und Urenkel fortſetzen und daß, wenn der Beruf
ſich auch forterbt, doch die Fähigkeit zu ſeiner Ausübung
ſchwindet. Jede Ariſtokratie, mag ſie Beſitzes- oder Berufs-
ariſtokratie ſein, entartet im Laufe der Zeit, wie die Pflanze
entartet, die in zu üppigem Boden wächſt. Es braucht
dabei noch gar nicht einmal an ein ſittliches Verkommen
gedacht zu werden; es genügt, daß die körperlichen und
geiſtigen Kräfte abnehmen, daß die Prokreation ſchwächer
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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/189>, abgerufen am 23.11.2024.
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