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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 66. Königsschutz.
im Bedürfnisfalle darf der Schützling oder sein Vertreter die Streit-
sache vor die Person des Königs bringen. Dann befasst sich der
König damit nicht als Stellvertreter, sondern als oberster Richter10.
Sie wird im Königsgerichte verhandelt, wo sie im Gegensatz zum
strengen Volksrechte nach Grundsätzen der Billigkeit erledigt werden
kann. Dieses Recht des Schützlings seine Rechtshändel an den Hof
des Königs zu dingen11 ist das 'ius reclamandi ad regis definitivam
sententiam'. Um es auf eine kurze Formel zu bringen, darf man es als
Reklamationsrecht bezeichnen. Sein praktischer Wert lag hauptsäch-
lich darin, dass es dem, der es genoss, den Weg zur königlichen
Billigkeitsjustiz eröffnete.

Der Sonderschutz des Königs gewährt dem Schützling ferner
einen höheren Sonderfrieden. Der König wirkt ihm diesen Frieden
bei der Aufnahme in den Sonderschutz vermittelst des Bannes, indem
er Verletzungen des Schützlings und seiner Rechtssphäre verbietet.
Der Friede schliesst nicht bloss die Person, sondern auch das Ver-
mögen des Befriedeten in sich und ausserdem die von ihm abhängigen
Leute, für die er Haftung oder Vertretung schuldet.

In älterer Zeit scheint der Königsschutz regelmässig in der Weise
verliehen worden zu sein, dass der König den Schützling zwar durch
Friedensbann in seinen Sonderschutz aufnahm, ihm aber gleichzeitig
für Handhabung des Schutzes einen besonderen Mundwalt ernannte.
So stellte nach einer Marculfschen Formel12 und nach einer Urkunde

lange: peto .. ut exinde revestita fuissem, per misericordia vestra talem missum
habuissem, qui mihi exinde in locum protectionis vestrae defensare et mun-
burire fecisset, qualiter pietati vestrae interveniente exinde recuperata fuissem. In
dem Schutzbrief Ludwigs I. für S. Croix de Poitiers, Mühlbacher Nr. 737 (Cap.
I 302), wird diesem Nonnenkloster für den Bedürfnisfall ein Vertreter bestimmt:
quando necesse fuerit, per iussionem domni Pippini regis Ramnulfum specialiter
missum habeant. Quando vero necesse non fuerit, advocatus earum per se iusti-
ciam faciat et accipiat.
10 In Schutzbriefen schwedischer Könige findet sich, dass der König sich das
Urteil in Sachen des Schützlings vorbehält. Lehmann, Königsfriede S. 93.
11 Den Ausdruck 'gegen Hof dingen' kennen die oberbairischen Quellen des
vierzehnten Jahrhunderts für ein Rechtsmittel, welches mit der fränkischen Rekla-
mation im wesentlichen zusammenfällt. Siehe Wehner, Die Gerichtsverfassung
der Stadt München, 1876, S. 85 ff. Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens
Baierns I (1889) S. 124.
12 Marculf I 24. Aehnlich in der verunechteten oder mit Benutzung einer
alten Vorlage gefälschten Urkunde: Pertz, Dipl. M. 50. Vgl. darüber H. Brun-
ner
, Mithio S. 7, Anm. 3. Havet, Questions Merovingiennes IV: Les chartes
de Saint-Calais (1887), S. 27.

§ 66. Königsschutz.
im Bedürfnisfalle darf der Schützling oder sein Vertreter die Streit-
sache vor die Person des Königs bringen. Dann befaſst sich der
König damit nicht als Stellvertreter, sondern als oberster Richter10.
Sie wird im Königsgerichte verhandelt, wo sie im Gegensatz zum
strengen Volksrechte nach Grundsätzen der Billigkeit erledigt werden
kann. Dieses Recht des Schützlings seine Rechtshändel an den Hof
des Königs zu dingen11 ist das ‘ius reclamandi ad regis definitivam
sententiam’. Um es auf eine kurze Formel zu bringen, darf man es als
Reklamationsrecht bezeichnen. Sein praktischer Wert lag hauptsäch-
lich darin, daſs es dem, der es genoſs, den Weg zur königlichen
Billigkeitsjustiz eröffnete.

Der Sonderschutz des Königs gewährt dem Schützling ferner
einen höheren Sonderfrieden. Der König wirkt ihm diesen Frieden
bei der Aufnahme in den Sonderschutz vermittelst des Bannes, indem
er Verletzungen des Schützlings und seiner Rechtssphäre verbietet.
Der Friede schlieſst nicht bloſs die Person, sondern auch das Ver-
mögen des Befriedeten in sich und auſserdem die von ihm abhängigen
Leute, für die er Haftung oder Vertretung schuldet.

In älterer Zeit scheint der Königsschutz regelmäſsig in der Weise
verliehen worden zu sein, daſs der König den Schützling zwar durch
Friedensbann in seinen Sonderschutz aufnahm, ihm aber gleichzeitig
für Handhabung des Schutzes einen besonderen Mundwalt ernannte.
So stellte nach einer Marculfschen Formel12 und nach einer Urkunde

lange: peto .. ut exinde revestita fuissem, per misericordia vestra talem missum
habuissem, qui mihi exinde in locum protectionis vestrae defensare et mun-
burire fecisset, qualiter pietati vestrae interveniente exinde recuperata fuissem. In
dem Schutzbrief Ludwigs I. für S. Croix de Poitiers, Mühlbacher Nr. 737 (Cap.
I 302), wird diesem Nonnenkloster für den Bedürfnisfall ein Vertreter bestimmt:
quando necesse fuerit, per iussionem domni Pippini regis Ramnulfum specialiter
missum habeant. Quando vero necesse non fuerit, advocatus earum per se iusti-
ciam faciat et accipiat.
10 In Schutzbriefen schwedischer Könige findet sich, daſs der König sich das
Urteil in Sachen des Schützlings vorbehält. Lehmann, Königsfriede S. 93.
11 Den Ausdruck ‘gegen Hof dingen’ kennen die oberbairischen Quellen des
vierzehnten Jahrhunderts für ein Rechtsmittel, welches mit der fränkischen Rekla-
mation im wesentlichen zusammenfällt. Siehe Wehner, Die Gerichtsverfassung
der Stadt München, 1876, S. 85 ff. Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens
Baierns I (1889) S. 124.
12 Marculf I 24. Aehnlich in der verunechteten oder mit Benutzung einer
alten Vorlage gefälschten Urkunde: Pertz, Dipl. M. 50. Vgl. darüber H. Brun-
ner
, Mithio S. 7, Anm. 3. Havet, Questions Mérovingiennes IV: Les chartes
de Saint-Calais (1887), S. 27.
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[50/0068] § 66. Königsschutz. im Bedürfnisfalle darf der Schützling oder sein Vertreter die Streit- sache vor die Person des Königs bringen. Dann befaſst sich der König damit nicht als Stellvertreter, sondern als oberster Richter 10. Sie wird im Königsgerichte verhandelt, wo sie im Gegensatz zum strengen Volksrechte nach Grundsätzen der Billigkeit erledigt werden kann. Dieses Recht des Schützlings seine Rechtshändel an den Hof des Königs zu dingen 11 ist das ‘ius reclamandi ad regis definitivam sententiam’. Um es auf eine kurze Formel zu bringen, darf man es als Reklamationsrecht bezeichnen. Sein praktischer Wert lag hauptsäch- lich darin, daſs es dem, der es genoſs, den Weg zur königlichen Billigkeitsjustiz eröffnete. Der Sonderschutz des Königs gewährt dem Schützling ferner einen höheren Sonderfrieden. Der König wirkt ihm diesen Frieden bei der Aufnahme in den Sonderschutz vermittelst des Bannes, indem er Verletzungen des Schützlings und seiner Rechtssphäre verbietet. Der Friede schlieſst nicht bloſs die Person, sondern auch das Ver- mögen des Befriedeten in sich und auſserdem die von ihm abhängigen Leute, für die er Haftung oder Vertretung schuldet. In älterer Zeit scheint der Königsschutz regelmäſsig in der Weise verliehen worden zu sein, daſs der König den Schützling zwar durch Friedensbann in seinen Sonderschutz aufnahm, ihm aber gleichzeitig für Handhabung des Schutzes einen besonderen Mundwalt ernannte. So stellte nach einer Marculfschen Formel 12 und nach einer Urkunde 9 10 In Schutzbriefen schwedischer Könige findet sich, daſs der König sich das Urteil in Sachen des Schützlings vorbehält. Lehmann, Königsfriede S. 93. 11 Den Ausdruck ‘gegen Hof dingen’ kennen die oberbairischen Quellen des vierzehnten Jahrhunderts für ein Rechtsmittel, welches mit der fränkischen Rekla- mation im wesentlichen zusammenfällt. Siehe Wehner, Die Gerichtsverfassung der Stadt München, 1876, S. 85 ff. Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens Baierns I (1889) S. 124. 12 Marculf I 24. Aehnlich in der verunechteten oder mit Benutzung einer alten Vorlage gefälschten Urkunde: Pertz, Dipl. M. 50. Vgl. darüber H. Brun- ner, Mithio S. 7, Anm. 3. Havet, Questions Mérovingiennes IV: Les chartes de Saint-Calais (1887), S. 27. 9 lange: peto .. ut exinde revestita fuissem, per misericordia vestra talem missum habuissem, qui mihi exinde in locum protectionis vestrae defensare et mun- burire fecisset, qualiter pietati vestrae interveniente exinde recuperata fuissem. In dem Schutzbrief Ludwigs I. für S. Croix de Poitiers, Mühlbacher Nr. 737 (Cap. I 302), wird diesem Nonnenkloster für den Bedürfnisfall ein Vertreter bestimmt: quando necesse fuerit, per iussionem domni Pippini regis Ramnulfum specialiter missum habeant. Quando vero necesse non fuerit, advocatus earum per se iusti- ciam faciat et accipiat.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/68>, abgerufen am 27.04.2024.