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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 63. Der unmündige König.

Im Hause der Karolinger, welches nach ribuarischem Rechte lebte,
fiel der staatsrechtliche Mündigkeitstermin mit dem privatrechtlichen
zusammen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das ribuarische
Volksrecht bestimmte die Thronfolgeordnung von 817, dass der Thron-
erbe bis zur erreichten Mündigkeit unter Vormundschaft gehalten
werden solle 5. War wie bei Ludwig I. die Wehrhaftmachung schon
vor der Mündigkeit erfolgt, so kam jene nicht weiter in Frage. Da-
gegen empfing Karl der Kahle erst nach seinem sechzehnten Geburts-
tage von seinem Vater die Wehrhaftmachung und die Herrschaft über
einen Teil von Neustrien 6.

Unter den Merowingern fehlte es an festen Rechtssätzen über die
vormundschaftliche Regierung. Länger als die übrigen Stammesrechte
hielt das salische Recht an der Gesamtvormundschaft der Sippe fest.
Da diese für eine interimistische Verwaltung des Königtums durchaus
unbrauchbar war, ein Anspruch eines geborenen Vormunds aber nicht
bestand, so musste in anderer Weise Fürsorge getroffen werden. Die
Regierungshandlungen erfolgten im Namen des Unmündigen; auch
die Königsurkunden wurden auf seinen Namen ausgestellt. That-
sächlich führten aber die Grossen des Reiches die interimistische Re-
gierung, etwa nach Art eines Familienrats. Mitunter räumten sie der
Mutter des unmündigen Königs einen Anteil an der Verwaltung ein
oder beriefen sie wohl auch zur formellen Mitregierung 7. Von der inter-

5 Ord. imp. c. 16, Cap. I 273: si vero alicui illorum contigerit, nobis dece-
dentibus, ad annos legitimos iuxta Ribuariam legem nondum pervenisse, volumus
ut, donec ad praefinitum annorum terminum veniat, quemadmodum modo a nobis sic
a seniore fratre et ipse et regnum eius procuretur atque gubernetur. Et cum ad
legitimos annos pervenerit, iuxta taxatum modum sua potestate in omnibus potiatur.
6 Karl der Kahle war am 13. Juni 823 geboren. Erst im September 838
wurde er zu Kiersy wehrhaft gemacht und in die Regierung eines Teiles von
Neustrien eingesetzt. Vita Hlud. c. 59, MG SS II 643: d. imperator filium suum
Karolum armis virilibus, id est ense, cinxit -- partemque regni -- id est Niustriam
attribuit . . Nithard I 6: Karolo arma et coronam et quandam portionem regni . .
dedit. Dagegen hat Karl der Einfältige, geboren im September 879 (Richter,
Annalen II 2, S. 457 Anm. d), sich schon am 28. Januar 893, also vor dem fünf-
zehnten Lebensjahre, zu Reims erheben lassen. Damit stimmt es freilich nicht,
wenn Richer von Saint-Remi, welchen Schröder, Z2 f. RG II 41, Anm. 2, heran-
zieht, Karl den Einfältigen zur Zeit der Salbung als quindennis bezeichnet. Hist.
I 12, MG SS III 573. Allein Richer ist bekanntlich nur mit grösster Vorsicht zu
benutzen (vgl. Wattenbach, Geschichtsquellen I5 383 f.) und in seinen chrono-
logischen Angaben konfus. Nach I 4 wäre Karl, der nachgeborene Sohn Ludwigs
des Stammlers, als sein Vater starb (879), schon biennis gewesen.
7 So Balthilde, die Mutter Chlothars III., von der es im Liber hist. Franc.
c. 44 heisst: Franci vero Chlotharium ... regem sibi statuunt cum ipsa regina
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 3
§ 63. Der unmündige König.

Im Hause der Karolinger, welches nach ribuarischem Rechte lebte,
fiel der staatsrechtliche Mündigkeitstermin mit dem privatrechtlichen
zusammen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das ribuarische
Volksrecht bestimmte die Thronfolgeordnung von 817, daſs der Thron-
erbe bis zur erreichten Mündigkeit unter Vormundschaft gehalten
werden solle 5. War wie bei Ludwig I. die Wehrhaftmachung schon
vor der Mündigkeit erfolgt, so kam jene nicht weiter in Frage. Da-
gegen empfing Karl der Kahle erst nach seinem sechzehnten Geburts-
tage von seinem Vater die Wehrhaftmachung und die Herrschaft über
einen Teil von Neustrien 6.

Unter den Merowingern fehlte es an festen Rechtssätzen über die
vormundschaftliche Regierung. Länger als die übrigen Stammesrechte
hielt das salische Recht an der Gesamtvormundschaft der Sippe fest.
Da diese für eine interimistische Verwaltung des Königtums durchaus
unbrauchbar war, ein Anspruch eines geborenen Vormunds aber nicht
bestand, so muſste in anderer Weise Fürsorge getroffen werden. Die
Regierungshandlungen erfolgten im Namen des Unmündigen; auch
die Königsurkunden wurden auf seinen Namen ausgestellt. That-
sächlich führten aber die Groſsen des Reiches die interimistische Re-
gierung, etwa nach Art eines Familienrats. Mitunter räumten sie der
Mutter des unmündigen Königs einen Anteil an der Verwaltung ein
oder beriefen sie wohl auch zur formellen Mitregierung 7. Von der inter-

5 Ord. imp. c. 16, Cap. I 273: si vero alicui illorum contigerit, nobis dece-
dentibus, ad annos legitimos iuxta Ribuariam legem nondum pervenisse, volumus
ut, donec ad praefinitum annorum terminum veniat, quemadmodum modo a nobis sic
a seniore fratre et ipse et regnum eius procuretur atque gubernetur. Et cum ad
legitimos annos pervenerit, iuxta taxatum modum sua potestate in omnibus potiatur.
6 Karl der Kahle war am 13. Juni 823 geboren. Erst im September 838
wurde er zu Kiersy wehrhaft gemacht und in die Regierung eines Teiles von
Neustrien eingesetzt. Vita Hlud. c. 59, MG SS II 643: d. imperator filium suum
Karolum armis virilibus, id est ense, cinxit — partemque regni — id est Niustriam
attribuit . . Nithard I 6: Karolo arma et coronam et quandam portionem regni . .
dedit. Dagegen hat Karl der Einfältige, geboren im September 879 (Richter,
Annalen II 2, S. 457 Anm. d), sich schon am 28. Januar 893, also vor dem fünf-
zehnten Lebensjahre, zu Reims erheben lassen. Damit stimmt es freilich nicht,
wenn Richer von Saint-Remi, welchen Schröder, Z2 f. RG II 41, Anm. 2, heran-
zieht, Karl den Einfältigen zur Zeit der Salbung als quindennis bezeichnet. Hist.
I 12, MG SS III 573. Allein Richer ist bekanntlich nur mit gröſster Vorsicht zu
benutzen (vgl. Wattenbach, Geschichtsquellen I5 383 f.) und in seinen chrono-
logischen Angaben konfus. Nach I 4 wäre Karl, der nachgeborene Sohn Ludwigs
des Stammlers, als sein Vater starb (879), schon biennis gewesen.
7 So Balthilde, die Mutter Chlothars III., von der es im Liber hist. Franc.
c. 44 heiſst: Franci vero Chlotharium … regem sibi statuunt cum ipsa regina
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 3
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[33/0051] § 63. Der unmündige König. Im Hause der Karolinger, welches nach ribuarischem Rechte lebte, fiel der staatsrechtliche Mündigkeitstermin mit dem privatrechtlichen zusammen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das ribuarische Volksrecht bestimmte die Thronfolgeordnung von 817, daſs der Thron- erbe bis zur erreichten Mündigkeit unter Vormundschaft gehalten werden solle 5. War wie bei Ludwig I. die Wehrhaftmachung schon vor der Mündigkeit erfolgt, so kam jene nicht weiter in Frage. Da- gegen empfing Karl der Kahle erst nach seinem sechzehnten Geburts- tage von seinem Vater die Wehrhaftmachung und die Herrschaft über einen Teil von Neustrien 6. Unter den Merowingern fehlte es an festen Rechtssätzen über die vormundschaftliche Regierung. Länger als die übrigen Stammesrechte hielt das salische Recht an der Gesamtvormundschaft der Sippe fest. Da diese für eine interimistische Verwaltung des Königtums durchaus unbrauchbar war, ein Anspruch eines geborenen Vormunds aber nicht bestand, so muſste in anderer Weise Fürsorge getroffen werden. Die Regierungshandlungen erfolgten im Namen des Unmündigen; auch die Königsurkunden wurden auf seinen Namen ausgestellt. That- sächlich führten aber die Groſsen des Reiches die interimistische Re- gierung, etwa nach Art eines Familienrats. Mitunter räumten sie der Mutter des unmündigen Königs einen Anteil an der Verwaltung ein oder beriefen sie wohl auch zur formellen Mitregierung 7. Von der inter- 5 Ord. imp. c. 16, Cap. I 273: si vero alicui illorum contigerit, nobis dece- dentibus, ad annos legitimos iuxta Ribuariam legem nondum pervenisse, volumus ut, donec ad praefinitum annorum terminum veniat, quemadmodum modo a nobis sic a seniore fratre et ipse et regnum eius procuretur atque gubernetur. Et cum ad legitimos annos pervenerit, iuxta taxatum modum sua potestate in omnibus potiatur. 6 Karl der Kahle war am 13. Juni 823 geboren. Erst im September 838 wurde er zu Kiersy wehrhaft gemacht und in die Regierung eines Teiles von Neustrien eingesetzt. Vita Hlud. c. 59, MG SS II 643: d. imperator filium suum Karolum armis virilibus, id est ense, cinxit — partemque regni — id est Niustriam attribuit . . Nithard I 6: Karolo arma et coronam et quandam portionem regni . . dedit. Dagegen hat Karl der Einfältige, geboren im September 879 (Richter, Annalen II 2, S. 457 Anm. d), sich schon am 28. Januar 893, also vor dem fünf- zehnten Lebensjahre, zu Reims erheben lassen. Damit stimmt es freilich nicht, wenn Richer von Saint-Remi, welchen Schröder, Z2 f. RG II 41, Anm. 2, heran- zieht, Karl den Einfältigen zur Zeit der Salbung als quindennis bezeichnet. Hist. I 12, MG SS III 573. Allein Richer ist bekanntlich nur mit gröſster Vorsicht zu benutzen (vgl. Wattenbach, Geschichtsquellen I5 383 f.) und in seinen chrono- logischen Angaben konfus. Nach I 4 wäre Karl, der nachgeborene Sohn Ludwigs des Stammlers, als sein Vater starb (879), schon biennis gewesen. 7 So Balthilde, die Mutter Chlothars III., von der es im Liber hist. Franc. c. 44 heiſst: Franci vero Chlotharium … regem sibi statuunt cum ipsa regina Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 3

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/51>, abgerufen am 27.04.2024.