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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 102. Die Wette im Rechtsgang.
rolle zufällt, die Durchführung des Beweises. War es Beweis- und
Endurteil zugleich, so legt er das Versprechen ab, entweder zu be-
weisen oder zu thun, was Rechtens ist. Indem der Gegner das Ge-
löbnis empfängt, wird dieses zum Vertrag und jener zum Gläubiger
einer einfachen oder alternativen Vertragsschuld, die den Beweis oder
die Befriedigung zum Gegenstande hat. Die durch Urteil auferlegten
Beweis- und Befriedigungsverträge fügen sich unter den weiteren Be-
griff des prozessualischen Vertrags. Sie sind prozessualische Verträge,
die, vor Gericht abgeschlossen, den Rechtsstreit zum Austrag bringen
sollen. Der altdeutsche Rechtsgang kennt aber noch andere, nämlich
solche, die den Rechtsstreit einzuleiten, fortzusetzen oder in eine andere
prozessualische Lage hinüberzuleiten bestimmt sind und aussergerichtlich
oder vor Gericht zu stande kommen.

Als ein prozessualischer Vertrag stellt sich das Streitgedinge dar,
das bereits oben S. 340 f. besprochen worden ist. Auch die Ver-
tagung eines begonnenen Rechtsstreites, das Versprechen, einen Ge-
währsmann oder einen Vertreter beizubringen, einen Knecht oder einen
abhängigen Mann zu stellen, können Anlass zu Prozessverträgen geben.

Der prozessualische Vertrag ist rechtsförmlicher Vertrag. Er wird
durch Hingabe einer Wadia 1, Wette, als Wettvertrag (wadiatio) ge-
schlossen 2. Man kann ihn daher auch Wette, soweit er Beweisver-
trag ist, Beweiswette nennen. Nach dem Sprachgebrauch der fränki-
schen Quellen fällt er unter den Begriff der fides facta, des fidem
facere. Als Wadia diente den Franken ein Stab, festuca, der dargereicht
oder zugeworfen wurde 3. Für das rechtsförmliche Versprechen, dass
man einen Beweis führen 4 oder dass man selbst oder dass ein Dritter
vor Gericht erscheinen werde 5, hat die fränkische Rechtssprache den

1 Siehe insbesondere Val de Lievre S. 134. Für das alamannische Recht
Lex Alam. 36, 2.
2 Über den Wettvertrag wird in der Geschichte des Privatrechts des näheren
gehandelt werden.
3 Z. B. Pertz, Dipl. M. 59 v. J. 691: quod et ita per fistuca visus est achram-
misse. Add. Turon. 6, Zeumer, Formulae S. 161. Form. Senon. recent. 2. Form.
Merkel. 27. 28. Form. Emmer. 3. Siehe unten Anm. 5.
4 Sacramentum adramire in Form. Senon. recent. 1. 2. Add. Turon. 6.
Form. Merkel. 27. 28. Cap. de part. Sax. c. 32, I 70. Cap. Aquisgr. v. J. 809,
c. 14, I 149. Testimonia adramire in Form. Senon. recent. 3, Perard S. 34,
Nr. 15 v. J. 819; S. 35 Nr. 18 v. J. 816; S. 147 v. J. 867 (H. 220. 215. 369).
Cartam, scripturas aframire in Form. Emmer. 3, in Urk. v. J. 918 bei Thevenin
Nr. 123, S. 181, H. 487. Vgl. Pertz, Dipl. M. 59.
5 Siehe oben S. 340, Anm. 50. Germer Durand, Cartulaire de Nimes Nr. 1
v. J. 876 (H. 404): ipse B. sua festuca jactante ad praedictum placitum se affra-
mivit, ut faceret quod lex est.

§ 102. Die Wette im Rechtsgang.
rolle zufällt, die Durchführung des Beweises. War es Beweis- und
Endurteil zugleich, so legt er das Versprechen ab, entweder zu be-
weisen oder zu thun, was Rechtens ist. Indem der Gegner das Ge-
löbnis empfängt, wird dieses zum Vertrag und jener zum Gläubiger
einer einfachen oder alternativen Vertragsschuld, die den Beweis oder
die Befriedigung zum Gegenstande hat. Die durch Urteil auferlegten
Beweis- und Befriedigungsverträge fügen sich unter den weiteren Be-
griff des prozessualischen Vertrags. Sie sind prozessualische Verträge,
die, vor Gericht abgeschlossen, den Rechtsstreit zum Austrag bringen
sollen. Der altdeutsche Rechtsgang kennt aber noch andere, nämlich
solche, die den Rechtsstreit einzuleiten, fortzusetzen oder in eine andere
prozessualische Lage hinüberzuleiten bestimmt sind und auſsergerichtlich
oder vor Gericht zu stande kommen.

Als ein prozessualischer Vertrag stellt sich das Streitgedinge dar,
das bereits oben S. 340 f. besprochen worden ist. Auch die Ver-
tagung eines begonnenen Rechtsstreites, das Versprechen, einen Ge-
währsmann oder einen Vertreter beizubringen, einen Knecht oder einen
abhängigen Mann zu stellen, können Anlaſs zu Prozeſsverträgen geben.

Der prozessualische Vertrag ist rechtsförmlicher Vertrag. Er wird
durch Hingabe einer Wadia 1, Wette, als Wettvertrag (wadiatio) ge-
schlossen 2. Man kann ihn daher auch Wette, soweit er Beweisver-
trag ist, Beweiswette nennen. Nach dem Sprachgebrauch der fränki-
schen Quellen fällt er unter den Begriff der fides facta, des fidem
facere. Als Wadia diente den Franken ein Stab, festuca, der dargereicht
oder zugeworfen wurde 3. Für das rechtsförmliche Versprechen, daſs
man einen Beweis führen 4 oder daſs man selbst oder daſs ein Dritter
vor Gericht erscheinen werde 5, hat die fränkische Rechtssprache den

1 Siehe insbesondere Val de Liévre S. 134. Für das alamannische Recht
Lex Alam. 36, 2.
2 Über den Wettvertrag wird in der Geschichte des Privatrechts des näheren
gehandelt werden.
3 Z. B. Pertz, Dipl. M. 59 v. J. 691: quod et ita per fistuca visus est achram-
misse. Add. Turon. 6, Zeumer, Formulae S. 161. Form. Senon. recent. 2. Form.
Merkel. 27. 28. Form. Emmer. 3. Siehe unten Anm. 5.
4 Sacramentum adramire in Form. Senon. recent. 1. 2. Add. Turon. 6.
Form. Merkel. 27. 28. Cap. de part. Sax. c. 32, I 70. Cap. Aquisgr. v. J. 809,
c. 14, I 149. Testimonia adramire in Form. Senon. recent. 3, Pérard S. 34,
Nr. 15 v. J. 819; S. 35 Nr. 18 v. J. 816; S. 147 v. J. 867 (H. 220. 215. 369).
Cartam, scripturas aframire in Form. Emmer. 3, in Urk. v. J. 918 bei Thévenin
Nr. 123, S. 181, H. 487. Vgl. Pertz, Dipl. M. 59.
5 Siehe oben S. 340, Anm. 50. Germer Durand, Cartulaire de Nimes Nr. 1
v. J. 876 (H. 404): ipse B. sua festuca jactante ad praedictum placitum se affra-
mivit, ut faceret quod lex est.
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[366/0384] § 102. Die Wette im Rechtsgang. rolle zufällt, die Durchführung des Beweises. War es Beweis- und Endurteil zugleich, so legt er das Versprechen ab, entweder zu be- weisen oder zu thun, was Rechtens ist. Indem der Gegner das Ge- löbnis empfängt, wird dieses zum Vertrag und jener zum Gläubiger einer einfachen oder alternativen Vertragsschuld, die den Beweis oder die Befriedigung zum Gegenstande hat. Die durch Urteil auferlegten Beweis- und Befriedigungsverträge fügen sich unter den weiteren Be- griff des prozessualischen Vertrags. Sie sind prozessualische Verträge, die, vor Gericht abgeschlossen, den Rechtsstreit zum Austrag bringen sollen. Der altdeutsche Rechtsgang kennt aber noch andere, nämlich solche, die den Rechtsstreit einzuleiten, fortzusetzen oder in eine andere prozessualische Lage hinüberzuleiten bestimmt sind und auſsergerichtlich oder vor Gericht zu stande kommen. Als ein prozessualischer Vertrag stellt sich das Streitgedinge dar, das bereits oben S. 340 f. besprochen worden ist. Auch die Ver- tagung eines begonnenen Rechtsstreites, das Versprechen, einen Ge- währsmann oder einen Vertreter beizubringen, einen Knecht oder einen abhängigen Mann zu stellen, können Anlaſs zu Prozeſsverträgen geben. Der prozessualische Vertrag ist rechtsförmlicher Vertrag. Er wird durch Hingabe einer Wadia 1, Wette, als Wettvertrag (wadiatio) ge- schlossen 2. Man kann ihn daher auch Wette, soweit er Beweisver- trag ist, Beweiswette nennen. Nach dem Sprachgebrauch der fränki- schen Quellen fällt er unter den Begriff der fides facta, des fidem facere. Als Wadia diente den Franken ein Stab, festuca, der dargereicht oder zugeworfen wurde 3. Für das rechtsförmliche Versprechen, daſs man einen Beweis führen 4 oder daſs man selbst oder daſs ein Dritter vor Gericht erscheinen werde 5, hat die fränkische Rechtssprache den 1 Siehe insbesondere Val de Liévre S. 134. Für das alamannische Recht Lex Alam. 36, 2. 2 Über den Wettvertrag wird in der Geschichte des Privatrechts des näheren gehandelt werden. 3 Z. B. Pertz, Dipl. M. 59 v. J. 691: quod et ita per fistuca visus est achram- misse. Add. Turon. 6, Zeumer, Formulae S. 161. Form. Senon. recent. 2. Form. Merkel. 27. 28. Form. Emmer. 3. Siehe unten Anm. 5. 4 Sacramentum adramire in Form. Senon. recent. 1. 2. Add. Turon. 6. Form. Merkel. 27. 28. Cap. de part. Sax. c. 32, I 70. Cap. Aquisgr. v. J. 809, c. 14, I 149. Testimonia adramire in Form. Senon. recent. 3, Pérard S. 34, Nr. 15 v. J. 819; S. 35 Nr. 18 v. J. 816; S. 147 v. J. 867 (H. 220. 215. 369). Cartam, scripturas aframire in Form. Emmer. 3, in Urk. v. J. 918 bei Thévenin Nr. 123, S. 181, H. 487. Vgl. Pertz, Dipl. M. 59. 5 Siehe oben S. 340, Anm. 50. Germer Durand, Cartulaire de Nimes Nr. 1 v. J. 876 (H. 404): ipse B. sua festuca jactante ad praedictum placitum se affra- mivit, ut faceret quod lex est.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/384>, abgerufen am 21.11.2024.