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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 96. Die Kirche.

Schon 829 sprechen die fränkischen Bischöfe auf der Pariser
Synode und in einem Schreiben an Ludwig I., wenn auch in vor-
sichtiger Form, den Gedanken aus, dass die geistliche Gewalt den
Vorrang vor der weltlichen besitze46. Die grossen Fälschungen aus
der Mitte des neunten Jahrhunderts, Benedictus und Pseudoisidor, ar-
beiten in dieser Richtung. Zielbewusst verfolgt sie im Streben nach
Erweiterung der päpstlichen Machtfülle Nikolaus I. (858--867). In
den politischen Ereignissen des Jahres 833, die Ludwig I. unter
den Willen seiner Söhne beugten, erscheint der Papst als die ent-
scheidende Macht47. Die hohe fränkische Geistlichkeit ist es, welche
Ludwig I. exauctoriert und ihn 834 wieder formell in die Königswürde
einsetzt. Wie schon oben ausgeführt worden ist, gelingt es seit der
zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts die Salbung und Krönung
durch den Papst zu rechtlich wirksamer Übertragung der Kaiser-
würde zu gestalten48. Auch die Symbolik der königlichen Salbung
und Krönung dient als Mittel, um die Überordnung der kirchlichen
Gewalt zu accentuieren. Karl II. anerkennt 859 theoretisch das Recht
der Bischöfe, die ihn zum Könige geweiht hätten, ihn durch ihren
Urteilsspruch wieder abzusetzen49.

Das königliche Gesetzgebungsrecht in kirchlichen Angelegenheiten
erlitt zunächst im westfränkischen Reiche eine grundsätzliche Be-
schränkung. Die kirchenrechtlichen Fälschungen verfochten das Prinzip,
dass Gesetze der weltlichen Gewalt nichtig seien, wenn sie den Ka-
nones oder den Dekreten der römischen oder anderen Bischöfe wider-
sprächen. Dementsprechend erklärte Nikolaus I., dass die kirchlichen
Normen den kaiserlichen Gesetzen und Anordnungen vorgehen50.
Karl II. sah sich veranlasst, ein oberstes Gesetzgebungsrecht des

46 Cap. II 29, c. 3: totius sanctae Dei ecclesiae corpus in duas eximias per-
sonas in sacerdotalem videlicet et regalem .. divisum esse novimus, de qua re
Gelasius .. scribit: Duae sunt .., quibus principaliter mundus regitur, auctoritas
sacrata pontificum et regalis potestas, in quibus tanto gravius pondus est sacer-
dotum, quanto etiam pro ipsis regibus hominum in divino reddituri sunt examine
rationem.
47 Ranke, Weltgesch. VI 60 ff.
48 Siehe oben S. 90 f.
49 Conventus apud Saponarias, Libellus proclam. c. 3, Pertz, LL I 462: a qua
consecratione vel regni sublimitate supplantari vel proiici a nullo debueram sal-
tem sine audientia et iudicio episcoporum,
quorum ministerio in regem
sum consecratus et qui throni Dei sunt dicti, in quibus Deus sedet et per quos
sua decernit iudicia.
50 Hinschius, Kirchenrecht III 717.
21*
§ 96. Die Kirche.

Schon 829 sprechen die fränkischen Bischöfe auf der Pariser
Synode und in einem Schreiben an Ludwig I., wenn auch in vor-
sichtiger Form, den Gedanken aus, daſs die geistliche Gewalt den
Vorrang vor der weltlichen besitze46. Die groſsen Fälschungen aus
der Mitte des neunten Jahrhunderts, Benedictus und Pseudoisidor, ar-
beiten in dieser Richtung. Zielbewuſst verfolgt sie im Streben nach
Erweiterung der päpstlichen Machtfülle Nikolaus I. (858—867). In
den politischen Ereignissen des Jahres 833, die Ludwig I. unter
den Willen seiner Söhne beugten, erscheint der Papst als die ent-
scheidende Macht47. Die hohe fränkische Geistlichkeit ist es, welche
Ludwig I. exauctoriert und ihn 834 wieder formell in die Königswürde
einsetzt. Wie schon oben ausgeführt worden ist, gelingt es seit der
zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts die Salbung und Krönung
durch den Papst zu rechtlich wirksamer Übertragung der Kaiser-
würde zu gestalten48. Auch die Symbolik der königlichen Salbung
und Krönung dient als Mittel, um die Überordnung der kirchlichen
Gewalt zu accentuieren. Karl II. anerkennt 859 theoretisch das Recht
der Bischöfe, die ihn zum Könige geweiht hätten, ihn durch ihren
Urteilsspruch wieder abzusetzen49.

Das königliche Gesetzgebungsrecht in kirchlichen Angelegenheiten
erlitt zunächst im westfränkischen Reiche eine grundsätzliche Be-
schränkung. Die kirchenrechtlichen Fälschungen verfochten das Prinzip,
daſs Gesetze der weltlichen Gewalt nichtig seien, wenn sie den Ka-
nones oder den Dekreten der römischen oder anderen Bischöfe wider-
sprächen. Dementsprechend erklärte Nikolaus I., daſs die kirchlichen
Normen den kaiserlichen Gesetzen und Anordnungen vorgehen50.
Karl II. sah sich veranlaſst, ein oberstes Gesetzgebungsrecht des

46 Cap. II 29, c. 3: totius sanctae Dei ecclesiae corpus in duas eximias per-
sonas in sacerdotalem videlicet et regalem .. divisum esse novimus, de qua re
Gelasius .. scribit: Duae sunt .., quibus principaliter mundus regitur, auctoritas
sacrata pontificum et regalis potestas, in quibus tanto gravius pondus est sacer-
dotum, quanto etiam pro ipsis regibus hominum in divino reddituri sunt examine
rationem.
47 Ranke, Weltgesch. VI 60 ff.
48 Siehe oben S. 90 f.
49 Conventus apud Saponarias, Libellus proclam. c. 3, Pertz, LL I 462: a qua
consecratione vel regni sublimitate supplantari vel proiici a nullo debueram sal-
tem sine audientia et iudicio episcoporum,
quorum ministerio in regem
sum consecratus et qui throni Dei sunt dicti, in quibus Deus sedet et per quos
sua decernit iudicia.
50 Hinschius, Kirchenrecht III 717.
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[323/0341] § 96. Die Kirche. Schon 829 sprechen die fränkischen Bischöfe auf der Pariser Synode und in einem Schreiben an Ludwig I., wenn auch in vor- sichtiger Form, den Gedanken aus, daſs die geistliche Gewalt den Vorrang vor der weltlichen besitze 46. Die groſsen Fälschungen aus der Mitte des neunten Jahrhunderts, Benedictus und Pseudoisidor, ar- beiten in dieser Richtung. Zielbewuſst verfolgt sie im Streben nach Erweiterung der päpstlichen Machtfülle Nikolaus I. (858—867). In den politischen Ereignissen des Jahres 833, die Ludwig I. unter den Willen seiner Söhne beugten, erscheint der Papst als die ent- scheidende Macht 47. Die hohe fränkische Geistlichkeit ist es, welche Ludwig I. exauctoriert und ihn 834 wieder formell in die Königswürde einsetzt. Wie schon oben ausgeführt worden ist, gelingt es seit der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts die Salbung und Krönung durch den Papst zu rechtlich wirksamer Übertragung der Kaiser- würde zu gestalten 48. Auch die Symbolik der königlichen Salbung und Krönung dient als Mittel, um die Überordnung der kirchlichen Gewalt zu accentuieren. Karl II. anerkennt 859 theoretisch das Recht der Bischöfe, die ihn zum Könige geweiht hätten, ihn durch ihren Urteilsspruch wieder abzusetzen 49. Das königliche Gesetzgebungsrecht in kirchlichen Angelegenheiten erlitt zunächst im westfränkischen Reiche eine grundsätzliche Be- schränkung. Die kirchenrechtlichen Fälschungen verfochten das Prinzip, daſs Gesetze der weltlichen Gewalt nichtig seien, wenn sie den Ka- nones oder den Dekreten der römischen oder anderen Bischöfe wider- sprächen. Dementsprechend erklärte Nikolaus I., daſs die kirchlichen Normen den kaiserlichen Gesetzen und Anordnungen vorgehen 50. Karl II. sah sich veranlaſst, ein oberstes Gesetzgebungsrecht des 46 Cap. II 29, c. 3: totius sanctae Dei ecclesiae corpus in duas eximias per- sonas in sacerdotalem videlicet et regalem .. divisum esse novimus, de qua re Gelasius .. scribit: Duae sunt .., quibus principaliter mundus regitur, auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas, in quibus tanto gravius pondus est sacer- dotum, quanto etiam pro ipsis regibus hominum in divino reddituri sunt examine rationem. 47 Ranke, Weltgesch. VI 60 ff. 48 Siehe oben S. 90 f. 49 Conventus apud Saponarias, Libellus proclam. c. 3, Pertz, LL I 462: a qua consecratione vel regni sublimitate supplantari vel proiici a nullo debueram sal- tem sine audientia et iudicio episcoporum, quorum ministerio in regem sum consecratus et qui throni Dei sunt dicti, in quibus Deus sedet et per quos sua decernit iudicia. 50 Hinschius, Kirchenrecht III 717. 21*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/341>, abgerufen am 25.11.2024.