Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 96. Die Kirche.
Geistlichen wird erhöht40. Die kirchliche Immunität erfährt eine fort-
schreitende Ausdehnung.

Wie einerseits weltlicher Zwang und weltliche Strafe eintraten,
um einzelne rein kirchliche Vergehen zu ahnden, wurde andererseits
die Kirchengewalt in Anspruch genommen gegen Verbrechen, die das
weltliche Recht verpönte. So überliessen die Karolinger die Ahndung
des Incestes, den die merowingische Zeit in das weltliche Strafrecht
aufgenommen hatte, in erster Linie der Kirche, während der weltliche
Arm nur subsidiär eingriff41. Das wurde auch auf Fälle von adul-
terium42 und auf Verwandtenmord43 ausgedehnt. Nachmals nahm
Karl II. sogar für Münzfälschung und Anwendung falschen Masses
neben der weltlichen Strafe kirchliche Busse in Anspruch44. Eine
Gerichtsbarkeit in Ehesachen hat die Kirche in fränkischer Zeit noch
nicht erworben. Zwar stand die weltliche Ehegesetzgebung unter
kirchlichem Einfluss. Allein die Nichtigkeit der Ehe erkannten, die
Trennung der Verbundenen verfügten die weltlichen Richter45.

Als nach dem Tode Karls des Grossen sein in Aquitanien ver-
wälschter Sohn zur Regierung gelangte, begann das Verhältnis zwischen
Staat und Kirche sich allmählich zu verschieben. Weil unter der
Schwäche des Königtums die Kirche arg zu leiden hatte, bildete sich
eine kirchliche Partei, welche die Heilung der Schäden von der Be-
seitigung des Einflusses erwartete, den die Staatsgewalt in kirchlichen
Angelegenheiten von Rechts wegen und thatsächlich besass. Da die
Anhänger dieser Richtung die unentbehrliche Stütze und die unermess-
lichen Vorteile nicht aufgeben wollten und konnten, die der Staat
der Kirche gewährte, liess sich das gesteckte Ziel nur durch Unter-
ordnung der weltlichen Gewalt unter die kirchliche erreichen. Die
Wirren, welche die Frage der Thronfolge verursachte, die Schwäche
Ludwigs I. und die gegenseitige Eifersucht, die zwischen seinen Nach-
folgern herrschte, gaben der Hierarchie reichliche Gelegenheit, die
Lage des Reiches und der Dynastie in ihrem Sinne auszunutzen.


40 Cap. legg. add. v. J. 803, c. 1, I 113. Karoli Epist. 806--810, I 212.
Vgl. Concil. et capit. de eccl. percussoribus (saec. X) I 361.
41 Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Cap. Haristall. v. J. 779, c. 5, I 48.
Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 33, I 97.
42 Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Vgl. Cap. Aquisgr. 801--813, c. 1, I 170.
43 Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 32, I 97. Cap. Wormatiense v. J. 829,
c. 2, II 18. Vgl. Cap. Aquisgr. 801--813, c. 1, I 170.
44 Ed. Pistense v. J. 864, c. 13. 20, Pertz, LL I 491. 493.
45 Esmein, La juridiction de l'eglise sur le mariage en occident, Nouv.
Revue historique de droit francais 1890, S. 181.

§ 96. Die Kirche.
Geistlichen wird erhöht40. Die kirchliche Immunität erfährt eine fort-
schreitende Ausdehnung.

Wie einerseits weltlicher Zwang und weltliche Strafe eintraten,
um einzelne rein kirchliche Vergehen zu ahnden, wurde andererseits
die Kirchengewalt in Anspruch genommen gegen Verbrechen, die das
weltliche Recht verpönte. So überlieſsen die Karolinger die Ahndung
des Incestes, den die merowingische Zeit in das weltliche Strafrecht
aufgenommen hatte, in erster Linie der Kirche, während der weltliche
Arm nur subsidiär eingriff41. Das wurde auch auf Fälle von adul-
terium42 und auf Verwandtenmord43 ausgedehnt. Nachmals nahm
Karl II. sogar für Münzfälschung und Anwendung falschen Maſses
neben der weltlichen Strafe kirchliche Buſse in Anspruch44. Eine
Gerichtsbarkeit in Ehesachen hat die Kirche in fränkischer Zeit noch
nicht erworben. Zwar stand die weltliche Ehegesetzgebung unter
kirchlichem Einfluſs. Allein die Nichtigkeit der Ehe erkannten, die
Trennung der Verbundenen verfügten die weltlichen Richter45.

Als nach dem Tode Karls des Groſsen sein in Aquitanien ver-
wälschter Sohn zur Regierung gelangte, begann das Verhältnis zwischen
Staat und Kirche sich allmählich zu verschieben. Weil unter der
Schwäche des Königtums die Kirche arg zu leiden hatte, bildete sich
eine kirchliche Partei, welche die Heilung der Schäden von der Be-
seitigung des Einflusses erwartete, den die Staatsgewalt in kirchlichen
Angelegenheiten von Rechts wegen und thatsächlich besaſs. Da die
Anhänger dieser Richtung die unentbehrliche Stütze und die unermeſs-
lichen Vorteile nicht aufgeben wollten und konnten, die der Staat
der Kirche gewährte, lieſs sich das gesteckte Ziel nur durch Unter-
ordnung der weltlichen Gewalt unter die kirchliche erreichen. Die
Wirren, welche die Frage der Thronfolge verursachte, die Schwäche
Ludwigs I. und die gegenseitige Eifersucht, die zwischen seinen Nach-
folgern herrschte, gaben der Hierarchie reichliche Gelegenheit, die
Lage des Reiches und der Dynastie in ihrem Sinne auszunutzen.


40 Cap. legg. add. v. J. 803, c. 1, I 113. Karoli Epist. 806—810, I 212.
Vgl. Concil. et capit. de eccl. percussoribus (saec. X) I 361.
41 Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Cap. Haristall. v. J. 779, c. 5, I 48.
Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 33, I 97.
42 Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Vgl. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 1, I 170.
43 Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 32, I 97. Cap. Wormatiense v. J. 829,
c. 2, II 18. Vgl. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 1, I 170.
44 Ed. Pistense v. J. 864, c. 13. 20, Pertz, LL I 491. 493.
45 Esmein, La juridiction de l’église sur le mariage en occident, Nouv.
Revue historique de droit français 1890, S. 181.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0340" n="322"/><fw place="top" type="header">§ 96. Die Kirche.</fw><lb/>
Geistlichen wird erhöht<note place="foot" n="40">Cap. legg. add. v. J. 803, c. 1, I 113. Karoli Epist. 806&#x2014;810, I 212.<lb/>
Vgl. Concil. et capit. de eccl. percussoribus (saec. X) I 361.</note>. Die kirchliche Immunität erfährt eine fort-<lb/>
schreitende Ausdehnung.</p><lb/>
            <p>Wie einerseits weltlicher Zwang und weltliche Strafe eintraten,<lb/>
um einzelne rein kirchliche Vergehen zu ahnden, wurde andererseits<lb/>
die Kirchengewalt in Anspruch genommen gegen Verbrechen, die das<lb/>
weltliche Recht verpönte. So überlie&#x017F;sen die Karolinger die Ahndung<lb/>
des Incestes, den die merowingische Zeit in das weltliche Strafrecht<lb/>
aufgenommen hatte, in erster Linie der Kirche, während der weltliche<lb/>
Arm nur subsidiär eingriff<note place="foot" n="41">Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Cap. Haristall. v. J. 779, c. 5, I 48.<lb/>
Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 33, I 97.</note>. Das wurde auch auf Fälle von adul-<lb/>
terium<note place="foot" n="42">Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Vgl. Cap. Aquisgr. 801&#x2014;813, c. 1, I 170.</note> und auf Verwandtenmord<note place="foot" n="43">Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 32, I 97. Cap. Wormatiense v. J. 829,<lb/>
c. 2, II 18. Vgl. Cap. Aquisgr. 801&#x2014;813, c. 1, I 170.</note> ausgedehnt. Nachmals nahm<lb/>
Karl II. sogar für Münzfälschung und Anwendung falschen Ma&#x017F;ses<lb/>
neben der weltlichen Strafe kirchliche Bu&#x017F;se in Anspruch<note place="foot" n="44">Ed. Pistense v. J. 864, c. 13. 20, Pertz, LL I 491. 493.</note>. Eine<lb/>
Gerichtsbarkeit in Ehesachen hat die Kirche in fränkischer Zeit noch<lb/>
nicht erworben. Zwar stand die weltliche Ehegesetzgebung unter<lb/>
kirchlichem Einflu&#x017F;s. Allein die Nichtigkeit der Ehe erkannten, die<lb/>
Trennung der Verbundenen verfügten die weltlichen Richter<note place="foot" n="45"><hi rendition="#g">Esmein,</hi> La juridiction de l&#x2019;église sur le mariage en occident, Nouv.<lb/>
Revue historique de droit français 1890, S. 181.</note>.</p><lb/>
            <p>Als nach dem Tode Karls des Gro&#x017F;sen sein in Aquitanien ver-<lb/>
wälschter Sohn zur Regierung gelangte, begann das Verhältnis zwischen<lb/>
Staat und Kirche sich allmählich zu verschieben. Weil unter der<lb/>
Schwäche des Königtums die Kirche arg zu leiden hatte, bildete sich<lb/>
eine kirchliche Partei, welche die Heilung der Schäden von der Be-<lb/>
seitigung des Einflusses erwartete, den die Staatsgewalt in kirchlichen<lb/>
Angelegenheiten von Rechts wegen und thatsächlich besa&#x017F;s. Da die<lb/>
Anhänger dieser Richtung die unentbehrliche Stütze und die unerme&#x017F;s-<lb/>
lichen Vorteile nicht aufgeben wollten und konnten, die der Staat<lb/>
der Kirche gewährte, lie&#x017F;s sich das gesteckte Ziel nur durch Unter-<lb/>
ordnung der weltlichen Gewalt unter die kirchliche erreichen. Die<lb/>
Wirren, welche die Frage der Thronfolge verursachte, die Schwäche<lb/>
Ludwigs I. und die gegenseitige Eifersucht, die zwischen seinen Nach-<lb/>
folgern herrschte, gaben der Hierarchie reichliche Gelegenheit, die<lb/>
Lage des Reiches und der Dynastie in ihrem Sinne auszunutzen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0340] § 96. Die Kirche. Geistlichen wird erhöht 40. Die kirchliche Immunität erfährt eine fort- schreitende Ausdehnung. Wie einerseits weltlicher Zwang und weltliche Strafe eintraten, um einzelne rein kirchliche Vergehen zu ahnden, wurde andererseits die Kirchengewalt in Anspruch genommen gegen Verbrechen, die das weltliche Recht verpönte. So überlieſsen die Karolinger die Ahndung des Incestes, den die merowingische Zeit in das weltliche Strafrecht aufgenommen hatte, in erster Linie der Kirche, während der weltliche Arm nur subsidiär eingriff 41. Das wurde auch auf Fälle von adul- terium 42 und auf Verwandtenmord 43 ausgedehnt. Nachmals nahm Karl II. sogar für Münzfälschung und Anwendung falschen Maſses neben der weltlichen Strafe kirchliche Buſse in Anspruch 44. Eine Gerichtsbarkeit in Ehesachen hat die Kirche in fränkischer Zeit noch nicht erworben. Zwar stand die weltliche Ehegesetzgebung unter kirchlichem Einfluſs. Allein die Nichtigkeit der Ehe erkannten, die Trennung der Verbundenen verfügten die weltlichen Richter 45. Als nach dem Tode Karls des Groſsen sein in Aquitanien ver- wälschter Sohn zur Regierung gelangte, begann das Verhältnis zwischen Staat und Kirche sich allmählich zu verschieben. Weil unter der Schwäche des Königtums die Kirche arg zu leiden hatte, bildete sich eine kirchliche Partei, welche die Heilung der Schäden von der Be- seitigung des Einflusses erwartete, den die Staatsgewalt in kirchlichen Angelegenheiten von Rechts wegen und thatsächlich besaſs. Da die Anhänger dieser Richtung die unentbehrliche Stütze und die unermeſs- lichen Vorteile nicht aufgeben wollten und konnten, die der Staat der Kirche gewährte, lieſs sich das gesteckte Ziel nur durch Unter- ordnung der weltlichen Gewalt unter die kirchliche erreichen. Die Wirren, welche die Frage der Thronfolge verursachte, die Schwäche Ludwigs I. und die gegenseitige Eifersucht, die zwischen seinen Nach- folgern herrschte, gaben der Hierarchie reichliche Gelegenheit, die Lage des Reiches und der Dynastie in ihrem Sinne auszunutzen. 40 Cap. legg. add. v. J. 803, c. 1, I 113. Karoli Epist. 806—810, I 212. Vgl. Concil. et capit. de eccl. percussoribus (saec. X) I 361. 41 Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Cap. Haristall. v. J. 779, c. 5, I 48. Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 33, I 97. 42 Karlom. Cap. Liptin. c. 3, I 28. Vgl. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 1, I 170. 43 Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 32, I 97. Cap. Wormatiense v. J. 829, c. 2, II 18. Vgl. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 1, I 170. 44 Ed. Pistense v. J. 864, c. 13. 20, Pertz, LL I 491. 493. 45 Esmein, La juridiction de l’église sur le mariage en occident, Nouv. Revue historique de droit français 1890, S. 181.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/340
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/340>, abgerufen am 19.05.2024.