Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.§ 93. Die Grundherrlichkeit. tor pacis war zuletzt ein Friedensrichter mit der Kompetenz in cau-sae minores, wie sie der defensor civitatis besass. Die Stellung des assertor pacis und die ihm zukommende Gerichtsbarkeit scheinen die homines potentes nach der Eroberung Galliens im Verhältnis zu ihren Leuten längere Zeit behauptet zu haben, während für einzelne Kirchen ausserdem noch die Möglichkeit in Betracht kommt, dass sie den De- fensor zu einem kirchlichen Beamten erniedrigten 46. In Angers wird die volle Gerichtsbarkeit, wie sie dem assertor pacis und dem defensor civitatis nach spätrömischem Rechte zustand, zu Anfang des siebenten Jahrhunderts von Beamten der Kirche ausgeübt 47. Auch scheint das Edikt Chlothars II. v. J. 614 eine Gerichtsbarkeit von Kirchen und homines potentes über deren Leute vorauszusetzen in Angelegenheiten, die nicht Kriminalsachen sind 48. Auf spätrömischen Ursprung mag auch die ziemlich ausgedehnte Privatjurisdiktion der Kirche zurückgehen, welche uns in den churrhätischen Quellen, in der Lex Romana Curiensis und in den Capitula Remedii begegnet 49. Im Verlaufe der fränkischen Zeit ist die grundherrliche Gerichts- pacis, die Basiliken als irenarchos wiedergeben, und wohl auch der praepositus pacis in Cod. Theod. XII 1, 49, § 2 v. J. 361 (vgl. X 1, 17). In Lex Wisig. II 1, 16; II 1, 26 ist das Amt des assertor pacis ein königliches Kommissorium. (Über die Irenarchen handelt eingehend die kürzlich erschienene Abhandlung O. Hirsch- felds: Die Sicherheitspolizei im römischen Kaiserreich, Berliner SB 1891, S. 868 ff.) 46 Vgl. oben S. 201. 47 Siehe Z2 f. RG V 74. 48 Die Stelle, Chloth. Ed. c. 15, Cap. I 22, ist leider so lückenhaft über- liefert, dass sichere Schlüsse nicht gezogen werden können und namentlich zweifel- haft bleibt, ob und von wo ab es sich etwa um Immunitätsverhältnisse handelt. Das Schlusswort proficiat lässt vermuten, dass in der vorhergehenden Lücke von Immunität die Rede war. Vgl. unten S. 295, Anm. 45. 49 Die Lex Rom. Cur. unterscheidet iudices publici oder fiscales und iudices privati. In II 16, 2 heisst es: hoc est privatus, qui actor ecclesiarum est. 50 Das Edikt Chlothars spricht in c. 14 (Cap. I 22) von der emunitas praeci-
dentium domnorum, quod ecclesiae aut potentum vel cuicunque visi sunt indulsisse pro pace atque disciplina facienda, eine Wendung, der die Auffassung zu Grunde liegt, dass der Immunitätsherr (wie einst der assertor pacis) ein von der Staats- gewalt übertragenes Kommissorium der Friedensbewahrung besitze. § 93. Die Grundherrlichkeit. tor pacis war zuletzt ein Friedensrichter mit der Kompetenz in cau-sae minores, wie sie der defensor civitatis besaſs. Die Stellung des assertor pacis und die ihm zukommende Gerichtsbarkeit scheinen die homines potentes nach der Eroberung Galliens im Verhältnis zu ihren Leuten längere Zeit behauptet zu haben, während für einzelne Kirchen auſserdem noch die Möglichkeit in Betracht kommt, daſs sie den De- fensor zu einem kirchlichen Beamten erniedrigten 46. In Angers wird die volle Gerichtsbarkeit, wie sie dem assertor pacis und dem defensor civitatis nach spätrömischem Rechte zustand, zu Anfang des siebenten Jahrhunderts von Beamten der Kirche ausgeübt 47. Auch scheint das Edikt Chlothars II. v. J. 614 eine Gerichtsbarkeit von Kirchen und homines potentes über deren Leute vorauszusetzen in Angelegenheiten, die nicht Kriminalsachen sind 48. Auf spätrömischen Ursprung mag auch die ziemlich ausgedehnte Privatjurisdiktion der Kirche zurückgehen, welche uns in den churrhätischen Quellen, in der Lex Romana Curiensis und in den Capitula Remedii begegnet 49. Im Verlaufe der fränkischen Zeit ist die grundherrliche Gerichts- pacis, die Basiliken als irenarchos wiedergeben, und wohl auch der praepositus pacis in Cod. Theod. XII 1, 49, § 2 v. J. 361 (vgl. X 1, 17). In Lex Wisig. II 1, 16; II 1, 26 ist das Amt des assertor pacis ein königliches Kommissorium. (Über die Irenarchen handelt eingehend die kürzlich erschienene Abhandlung O. Hirsch- felds: Die Sicherheitspolizei im römischen Kaiserreich, Berliner SB 1891, S. 868 ff.) 46 Vgl. oben S. 201. 47 Siehe Z2 f. RG V 74. 48 Die Stelle, Chloth. Ed. c. 15, Cap. I 22, ist leider so lückenhaft über- liefert, daſs sichere Schlüsse nicht gezogen werden können und namentlich zweifel- haft bleibt, ob und von wo ab es sich etwa um Immunitätsverhältnisse handelt. Das Schluſswort proficiat läſst vermuten, daſs in der vorhergehenden Lücke von Immunität die Rede war. Vgl. unten S. 295, Anm. 45. 49 Die Lex Rom. Cur. unterscheidet iudices publici oder fiscales und iudices privati. In II 16, 2 heiſst es: hoc est privatus, qui actor ecclesiarum est. 50 Das Edikt Chlothars spricht in c. 14 (Cap. I 22) von der emunitas praeci-
dentium domnorum, quod ecclesiae aut potentum vel cuicunque visi sunt indulsisse pro pace atque disciplina facienda, eine Wendung, der die Auffassung zu Grunde liegt, daſs der Immunitätsherr (wie einst der assertor pacis) ein von der Staats- gewalt übertragenes Kommissorium der Friedensbewahrung besitze. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0304" n="286"/><fw place="top" type="header">§ 93. Die Grundherrlichkeit.</fw><lb/> tor pacis war zuletzt ein Friedensrichter mit der Kompetenz in cau-<lb/> sae minores, wie sie der defensor civitatis besaſs. Die Stellung des<lb/> assertor pacis und die ihm zukommende Gerichtsbarkeit scheinen die<lb/> homines potentes nach der Eroberung Galliens im Verhältnis zu ihren<lb/> Leuten längere Zeit behauptet zu haben, während für einzelne Kirchen<lb/> auſserdem noch die Möglichkeit in Betracht kommt, daſs sie den De-<lb/> fensor zu einem kirchlichen Beamten erniedrigten <note place="foot" n="46">Vgl. oben S. 201.</note>. In Angers<lb/> wird die volle Gerichtsbarkeit, wie sie dem assertor pacis und dem<lb/> defensor civitatis nach spätrömischem Rechte zustand, zu Anfang des<lb/> siebenten Jahrhunderts von Beamten der Kirche ausgeübt <note place="foot" n="47">Siehe Z<hi rendition="#sup">2</hi> f. RG V 74.</note>. Auch<lb/> scheint das Edikt Chlothars II. v. J. 614 eine Gerichtsbarkeit von<lb/> Kirchen und homines potentes über deren Leute vorauszusetzen in<lb/> Angelegenheiten, die nicht Kriminalsachen sind <note place="foot" n="48">Die Stelle, Chloth. Ed. c. 15, Cap. I 22, ist leider so lückenhaft über-<lb/> liefert, daſs sichere Schlüsse nicht gezogen werden können und namentlich zweifel-<lb/> haft bleibt, ob und von wo ab es sich etwa um Immunitätsverhältnisse handelt.<lb/> Das Schluſswort proficiat läſst vermuten, daſs in der vorhergehenden Lücke von<lb/> Immunität die Rede war. Vgl. unten S. 295, Anm. 45.</note>. Auf spätrömischen<lb/> Ursprung mag auch die ziemlich ausgedehnte Privatjurisdiktion der<lb/> Kirche zurückgehen, welche uns in den churrhätischen Quellen, in<lb/> der Lex Romana Curiensis und in den Capitula Remedii begegnet <note place="foot" n="49">Die Lex Rom. Cur. unterscheidet iudices publici oder fiscales und iudices<lb/> privati. In II 16, 2 heiſst es: hoc est privatus, qui actor ecclesiarum est.</note>.</p><lb/> <p>Im Verlaufe der fränkischen Zeit ist die grundherrliche Gerichts-<lb/> barkeit römischrechtlichen Ursprungs entweder auf das Niveau der<lb/> deutschrechtlichen herabgedrückt worden oder in die Immunität auf-<lb/> gegangen <note place="foot" n="50">Das Edikt Chlothars spricht in c. 14 (Cap. I 22) von der emunitas praeci-<lb/> dentium domnorum, quod ecclesiae aut potentum vel cuicunque visi sunt indulsisse<lb/> pro <hi rendition="#g">pace</hi> atque disciplina facienda, eine Wendung, der die Auffassung zu Grunde<lb/> liegt, daſs der Immunitätsherr (wie einst der assertor pacis) ein von der Staats-<lb/> gewalt übertragenes Kommissorium der Friedensbewahrung besitze.</note>, deren verfassungsgeschichtliche Bedeutung zum Teile<lb/> darin besteht, daſs sie Reste unorganischer Gerichtsbarkeit notdürftig<lb/> in den Rahmen der fränkischen Gerichtsverfassung einfügte.</p><lb/> <p> <note xml:id="seg2pn_70_2" prev="#seg2pn_70_1" place="foot" n="45">pacis, die Basiliken als irenarchos wiedergeben, und wohl auch der praepositus<lb/> pacis in Cod. Theod. XII 1, 49, § 2 v. J. 361 (vgl. X 1, 17). In Lex Wisig. II<lb/> 1, 16; II 1, 26 ist das Amt des assertor pacis ein königliches Kommissorium. (Über<lb/> die Irenarchen handelt eingehend die kürzlich erschienene Abhandlung O. <hi rendition="#g">Hirsch-<lb/> felds:</hi> Die Sicherheitspolizei im römischen Kaiserreich, Berliner SB 1891, S. 868 ff.)</note> </p> </div><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [286/0304]
§ 93. Die Grundherrlichkeit.
tor pacis war zuletzt ein Friedensrichter mit der Kompetenz in cau-
sae minores, wie sie der defensor civitatis besaſs. Die Stellung des
assertor pacis und die ihm zukommende Gerichtsbarkeit scheinen die
homines potentes nach der Eroberung Galliens im Verhältnis zu ihren
Leuten längere Zeit behauptet zu haben, während für einzelne Kirchen
auſserdem noch die Möglichkeit in Betracht kommt, daſs sie den De-
fensor zu einem kirchlichen Beamten erniedrigten 46. In Angers
wird die volle Gerichtsbarkeit, wie sie dem assertor pacis und dem
defensor civitatis nach spätrömischem Rechte zustand, zu Anfang des
siebenten Jahrhunderts von Beamten der Kirche ausgeübt 47. Auch
scheint das Edikt Chlothars II. v. J. 614 eine Gerichtsbarkeit von
Kirchen und homines potentes über deren Leute vorauszusetzen in
Angelegenheiten, die nicht Kriminalsachen sind 48. Auf spätrömischen
Ursprung mag auch die ziemlich ausgedehnte Privatjurisdiktion der
Kirche zurückgehen, welche uns in den churrhätischen Quellen, in
der Lex Romana Curiensis und in den Capitula Remedii begegnet 49.
Im Verlaufe der fränkischen Zeit ist die grundherrliche Gerichts-
barkeit römischrechtlichen Ursprungs entweder auf das Niveau der
deutschrechtlichen herabgedrückt worden oder in die Immunität auf-
gegangen 50, deren verfassungsgeschichtliche Bedeutung zum Teile
darin besteht, daſs sie Reste unorganischer Gerichtsbarkeit notdürftig
in den Rahmen der fränkischen Gerichtsverfassung einfügte.
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46 Vgl. oben S. 201.
47 Siehe Z2 f. RG V 74.
48 Die Stelle, Chloth. Ed. c. 15, Cap. I 22, ist leider so lückenhaft über-
liefert, daſs sichere Schlüsse nicht gezogen werden können und namentlich zweifel-
haft bleibt, ob und von wo ab es sich etwa um Immunitätsverhältnisse handelt.
Das Schluſswort proficiat läſst vermuten, daſs in der vorhergehenden Lücke von
Immunität die Rede war. Vgl. unten S. 295, Anm. 45.
49 Die Lex Rom. Cur. unterscheidet iudices publici oder fiscales und iudices
privati. In II 16, 2 heiſst es: hoc est privatus, qui actor ecclesiarum est.
50 Das Edikt Chlothars spricht in c. 14 (Cap. I 22) von der emunitas praeci-
dentium domnorum, quod ecclesiae aut potentum vel cuicunque visi sunt indulsisse
pro pace atque disciplina facienda, eine Wendung, der die Auffassung zu Grunde
liegt, daſs der Immunitätsherr (wie einst der assertor pacis) ein von der Staats-
gewalt übertragenes Kommissorium der Friedensbewahrung besitze.
45 pacis, die Basiliken als irenarchos wiedergeben, und wohl auch der praepositus
pacis in Cod. Theod. XII 1, 49, § 2 v. J. 361 (vgl. X 1, 17). In Lex Wisig. II
1, 16; II 1, 26 ist das Amt des assertor pacis ein königliches Kommissorium. (Über
die Irenarchen handelt eingehend die kürzlich erschienene Abhandlung O. Hirsch-
felds: Die Sicherheitspolizei im römischen Kaiserreich, Berliner SB 1891, S. 868 ff.)
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