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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 92. Gefolgschaft und Vassalität.
Benefiziums ersetzt wurde, gestaltete sich der Akt der Gabe zum
Akt der Leihe. Wie es scheint, ist es die alte Wadia, die nunmehr
den Charakter des Leihe-, des Investitursymbols hat91).

Ein der germanischen Gefolgschaft fremdartiges Merkmal der
Vassallität ist die Unkündbarkeit. Das Dienstverhältnis, wie es einst
der Gefolgsmann einging, war kein lebenslängliches. Er konnte es
einseitig auflösen; nur durfte dies nicht zur Unzeit geschehen und fiel
bei der Auflösung die Gabe, beziehungsweise das empfangene Land,
an den Herrn zurück92). Dagegen wird die Vassallität für Lebenszeit
des Vassallen und des Herrn eingegangen und ist die einseitige Lös-
barkeit eine rechtlich beschränkte. Der Vassall darf den Herrn nicht
aus beliebigen, sondern nur aus bestimmten gesetzlichen93) Gründen
verlassen94). Die Beschränkung der Kündbarkeit beruht wahrschein-
lich auf einer Einwirkung der gallo-römischen Patronatsverhältnisse,
die auf Lebenszeit eingegangen wurden95), wie sich denn überhaupt
daraus die strengere Ausgestaltung erklären dürfte, die das Lehn-
wesen in Frankreich erfuhr96). Da die Staatsgewalt aus militärischen
Gründen ein Interesse hatte, das Band der Vassallität zu festigen,
trat sie zu Gunsten der Unkündbarkeit in die Schranken97). Geringer
war jenes Interesse, wenn nur ein Wechsel des Seniors in Frage stand.
Wenigstens verlangt ein westfränkisches Kapitular von 856 für diesen

91) Stab, Lanze, Fahne, Schwert und Hut, die später hauptsächlich als In-
vestitursymbole dienen, dürften ursprünglich als Wadia verwendet worden sein.
92) Ine 63. Roth. 177. Leges Eurici, fragm. 310. H. Brunner, Landschen-
kungen, Berliner SB 1885, S. 1189 f. Auch das obsequium, in das sich nach Lex
Rib. 31, 1 der homo ingenuus begiebt, ist löslich; denn er muss vor Gericht
gestellt werden von dem Herrn, qui eum post se eodem tempore retenuit.
Darauf hat Beaudouin in seiner beachtenswerten Abhandlung S. 43 aufmerksam
gemacht. Der ingenuus in obsequio ist als ein im Hause des Herrn lebender Ga-
sind zu denken.
93) Ein Kapitularienfragment, welches wahrscheinlich der Zeit Karls d. Gr.
angehört, Cap. Francica c. 8, I 215, führt als solche an: den Versuch rechtswidriger
Verknechtung, Lebensnachstellung, Ehebruch mit der Frau des Vassallen, Be-
drohung mit dem Schwerte, Versagung des Schutzes. Das Cap. Aquisgr. 801--813,
c. 16, I 172 nennt noch Stockschläge, Entehrung der Tochter, Wegnahme des
Alods.
94) Abgesehen von den gesetzlichen Gründen darf der Vassall das Verhältnis
nicht einseitig auflösen, postquam ab eo acceperit valente solido uno, d. h. nach-
dem der Vassallitätsvertrag perfekt geworden. Cap. Aquisgr. 801--813, c. 16, I 172.
Ehrenberg a. O. S. 61.
95) Form. Turon. 43.
96) Homeyer, System des Lehnrechts, Ssp. II 2, S. 631. Siehe oben S. 265 f.
97) Siehe die Stellen in Anm. 93. Pipp. Cap. Pap. v. J. 787, c. 5, I 199.
Conventus apud Marsnam primus v. J. 847, Adnuntiatio Karoli c. 3, II 71.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 18

§ 92. Gefolgschaft und Vassalität.
Benefiziums ersetzt wurde, gestaltete sich der Akt der Gabe zum
Akt der Leihe. Wie es scheint, ist es die alte Wadia, die nunmehr
den Charakter des Leihe-, des Investitursymbols hat91).

Ein der germanischen Gefolgschaft fremdartiges Merkmal der
Vassallität ist die Unkündbarkeit. Das Dienstverhältnis, wie es einst
der Gefolgsmann einging, war kein lebenslängliches. Er konnte es
einseitig auflösen; nur durfte dies nicht zur Unzeit geschehen und fiel
bei der Auflösung die Gabe, beziehungsweise das empfangene Land,
an den Herrn zurück92). Dagegen wird die Vassallität für Lebenszeit
des Vassallen und des Herrn eingegangen und ist die einseitige Lös-
barkeit eine rechtlich beschränkte. Der Vassall darf den Herrn nicht
aus beliebigen, sondern nur aus bestimmten gesetzlichen93) Gründen
verlassen94). Die Beschränkung der Kündbarkeit beruht wahrschein-
lich auf einer Einwirkung der gallo-römischen Patronatsverhältnisse,
die auf Lebenszeit eingegangen wurden95), wie sich denn überhaupt
daraus die strengere Ausgestaltung erklären dürfte, die das Lehn-
wesen in Frankreich erfuhr96). Da die Staatsgewalt aus militärischen
Gründen ein Interesse hatte, das Band der Vassallität zu festigen,
trat sie zu Gunsten der Unkündbarkeit in die Schranken97). Geringer
war jenes Interesse, wenn nur ein Wechsel des Seniors in Frage stand.
Wenigstens verlangt ein westfränkisches Kapitular von 856 für diesen

91) Stab, Lanze, Fahne, Schwert und Hut, die später hauptsächlich als In-
vestitursymbole dienen, dürften ursprünglich als Wadia verwendet worden sein.
92) Ine 63. Roth. 177. Leges Eurici, fragm. 310. H. Brunner, Landschen-
kungen, Berliner SB 1885, S. 1189 f. Auch das obsequium, in das sich nach Lex
Rib. 31, 1 der homo ingenuus begiebt, ist löslich; denn er muſs vor Gericht
gestellt werden von dem Herrn, qui eum post se eodem tempore retenuit.
Darauf hat Beaudouin in seiner beachtenswerten Abhandlung S. 43 aufmerksam
gemacht. Der ingenuus in obsequio ist als ein im Hause des Herrn lebender Ga-
sind zu denken.
93) Ein Kapitularienfragment, welches wahrscheinlich der Zeit Karls d. Gr.
angehört, Cap. Francica c. 8, I 215, führt als solche an: den Versuch rechtswidriger
Verknechtung, Lebensnachstellung, Ehebruch mit der Frau des Vassallen, Be-
drohung mit dem Schwerte, Versagung des Schutzes. Das Cap. Aquisgr. 801—813,
c. 16, I 172 nennt noch Stockschläge, Entehrung der Tochter, Wegnahme des
Alods.
94) Abgesehen von den gesetzlichen Gründen darf der Vassall das Verhältnis
nicht einseitig auflösen, postquam ab eo acceperit valente solido uno, d. h. nach-
dem der Vassallitätsvertrag perfekt geworden. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 16, I 172.
Ehrenberg a. O. S. 61.
95) Form. Turon. 43.
96) Homeyer, System des Lehnrechts, Ssp. II 2, S. 631. Siehe oben S. 265 f.
97) Siehe die Stellen in Anm. 93. Pipp. Cap. Pap. v. J. 787, c. 5, I 199.
Conventus apud Marsnam primus v. J. 847, Adnuntiatio Karoli c. 3, II 71.
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[273/0291] § 92. Gefolgschaft und Vassalität. Benefiziums ersetzt wurde, gestaltete sich der Akt der Gabe zum Akt der Leihe. Wie es scheint, ist es die alte Wadia, die nunmehr den Charakter des Leihe-, des Investitursymbols hat 91). Ein der germanischen Gefolgschaft fremdartiges Merkmal der Vassallität ist die Unkündbarkeit. Das Dienstverhältnis, wie es einst der Gefolgsmann einging, war kein lebenslängliches. Er konnte es einseitig auflösen; nur durfte dies nicht zur Unzeit geschehen und fiel bei der Auflösung die Gabe, beziehungsweise das empfangene Land, an den Herrn zurück 92). Dagegen wird die Vassallität für Lebenszeit des Vassallen und des Herrn eingegangen und ist die einseitige Lös- barkeit eine rechtlich beschränkte. Der Vassall darf den Herrn nicht aus beliebigen, sondern nur aus bestimmten gesetzlichen 93) Gründen verlassen 94). Die Beschränkung der Kündbarkeit beruht wahrschein- lich auf einer Einwirkung der gallo-römischen Patronatsverhältnisse, die auf Lebenszeit eingegangen wurden 95), wie sich denn überhaupt daraus die strengere Ausgestaltung erklären dürfte, die das Lehn- wesen in Frankreich erfuhr 96). Da die Staatsgewalt aus militärischen Gründen ein Interesse hatte, das Band der Vassallität zu festigen, trat sie zu Gunsten der Unkündbarkeit in die Schranken 97). Geringer war jenes Interesse, wenn nur ein Wechsel des Seniors in Frage stand. Wenigstens verlangt ein westfränkisches Kapitular von 856 für diesen 91) Stab, Lanze, Fahne, Schwert und Hut, die später hauptsächlich als In- vestitursymbole dienen, dürften ursprünglich als Wadia verwendet worden sein. 92) Ine 63. Roth. 177. Leges Eurici, fragm. 310. H. Brunner, Landschen- kungen, Berliner SB 1885, S. 1189 f. Auch das obsequium, in das sich nach Lex Rib. 31, 1 der homo ingenuus begiebt, ist löslich; denn er muſs vor Gericht gestellt werden von dem Herrn, qui eum post se eodem tempore retenuit. Darauf hat Beaudouin in seiner beachtenswerten Abhandlung S. 43 aufmerksam gemacht. Der ingenuus in obsequio ist als ein im Hause des Herrn lebender Ga- sind zu denken. 93) Ein Kapitularienfragment, welches wahrscheinlich der Zeit Karls d. Gr. angehört, Cap. Francica c. 8, I 215, führt als solche an: den Versuch rechtswidriger Verknechtung, Lebensnachstellung, Ehebruch mit der Frau des Vassallen, Be- drohung mit dem Schwerte, Versagung des Schutzes. Das Cap. Aquisgr. 801—813, c. 16, I 172 nennt noch Stockschläge, Entehrung der Tochter, Wegnahme des Alods. 94) Abgesehen von den gesetzlichen Gründen darf der Vassall das Verhältnis nicht einseitig auflösen, postquam ab eo acceperit valente solido uno, d. h. nach- dem der Vassallitätsvertrag perfekt geworden. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 16, I 172. Ehrenberg a. O. S. 61. 95) Form. Turon. 43. 96) Homeyer, System des Lehnrechts, Ssp. II 2, S. 631. Siehe oben S. 265 f. 97) Siehe die Stellen in Anm. 93. Pipp. Cap. Pap. v. J. 787, c. 5, I 199. Conventus apud Marsnam primus v. J. 847, Adnuntiatio Karoli c. 3, II 71. Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 18

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/291>, abgerufen am 22.11.2024.