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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 85. Die königlichen Missi.
sich die ordentlichen Beamten hatten zu Schulden kommen lassen 23.
Höhere Beamte müssen sich wegen der Vergehen, deren man sie be-
zichtigt, vor dem Könige verantworten. Centenare, Schöffen und
Vögte werden, wenn schuldig befunden, von den Missi abgesetzt 24.

Abgesehen von diesen Versammlungen, welche zur Kontrolle der
Verwaltung dienen und als Landtage 25 bezeichnet werden können,
halten die Missi besondere Gerichtstage ab, um die Rechtspflege der
ordentlichen Beamten zu ergänzen. Sie sind bestellt 'ad iustitias
faciendas'. Die missatischen Gerichte stellen sich als Abspaltungen
des Königsgerichtes dar 26. Wie das Königsgericht zu seiner Besetzung
nicht das Gerichtsvolk eines bestimmten Gerichtsbezirkes verlangte,
war auch das missatische Gericht nicht an die ordentliche Dingfolge
der Gerichtspflichtigen einer bestimmten Malstätte gebunden. Allent-
halben mochten sich die Missi aus den öffentlichen Beamten, aus den
königlichen Vassallen, aus den Schöffen oder Rechtsprechern die er-
forderliche Zahl von Urteilfindern verschaffen. Doch konnten die

23 Die Untersuchung findet als technische Inquisitio in der Form des Rüge-
verfahrens statt. Siehe unten § 117. Dass solche Inquisitiones schon unter Karl
d. Grossen vorgekommen waren, bezeugt das missatische Placitum von Riziano in
Istrien aus dem Jahre 804 bei Carli, Antichita Italiche IV 5 ff., und auszugsweise
bei Waitz, VG III 488 ff.
24 Cap. de missis instruendis v. J. 829, II 8. Cap. miss. Theod. II v. J.
805, c. 12, I 124. Cap. omnibus cognita fac. 801--814, c. 3, I 144. Cap. miss.
Worm. v. J. 829, c. 2, II 15.
25 Schon Eichhorn I 627 bezeichnet sie als Provinziallandtage. Sie haben
in der That einen umfassenderen Charakter als die gewöhnlichen missatischen Placita,
die kein so allgemeines Aufgebot der Beamtenschaft erforderten. Doch konnte
auch der Landtag sich mit gerichtlicher Thätigkeit befassen und insofern zugleich
Gerichtstag sein. Sohm a. O. I 485 unterscheidet die Landtage als Beamten-
versammlungen und die missatischen Gerichte als Hundertschaftsversammlungen.
Die ersteren sollen jährlich viermal, aber in demselben Monat, die letzteren in vier
verschiedenen Monaten, aber ohne Beschränkung der Zahl, abgehalten worden sein.
Sohms Ansicht verliert ihre Stütze durch den Text, welchen c. 8 des Cap. de
iusticiis faciendis bei Boretius Cap. I 177 erhielt. Vgl. Waitz, VG III 467,
Anm. 1. Sie versagt auch bei Betrachtung einzelner Urkunden über missatische
Versammlungen. Meichelbeck Nr. 118 soll ein Landtag sein, weil nur Beamte
als testes genannt sind, Meichelbeck Nr. 125 ein Gerichtstag wegen der Formel:
ad causas diversas audiendas et eas recto iudicio finiendas. Allein auch in M.
Nr. 118 heisst es: ad universorum causas audiendas vel recta iudicia terminanda.
Meichelbeck Nr. 122 soll ein Landtag sein wegen der Formel: ad mandatum d.
imperatoris audiendum, sicut ipse praecepit imperator. Allein unter den Zeugen
finden sich etwa zwanzig, die keinen Amtstitel führen.
26 Es trifft in der Hauptsache zu, was schon Eichhorn I 642 f. sagt, dass
das missatische Gericht eigentlich die Stelle des Königsgerichtes vertrat.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 13

§ 85. Die königlichen Missi.
sich die ordentlichen Beamten hatten zu Schulden kommen lassen 23.
Höhere Beamte müssen sich wegen der Vergehen, deren man sie be-
zichtigt, vor dem Könige verantworten. Centenare, Schöffen und
Vögte werden, wenn schuldig befunden, von den Missi abgesetzt 24.

Abgesehen von diesen Versammlungen, welche zur Kontrolle der
Verwaltung dienen und als Landtage 25 bezeichnet werden können,
halten die Missi besondere Gerichtstage ab, um die Rechtspflege der
ordentlichen Beamten zu ergänzen. Sie sind bestellt ‘ad iustitias
faciendas’. Die missatischen Gerichte stellen sich als Abspaltungen
des Königsgerichtes dar 26. Wie das Königsgericht zu seiner Besetzung
nicht das Gerichtsvolk eines bestimmten Gerichtsbezirkes verlangte,
war auch das missatische Gericht nicht an die ordentliche Dingfolge
der Gerichtspflichtigen einer bestimmten Malstätte gebunden. Allent-
halben mochten sich die Missi aus den öffentlichen Beamten, aus den
königlichen Vassallen, aus den Schöffen oder Rechtsprechern die er-
forderliche Zahl von Urteilfindern verschaffen. Doch konnten die

23 Die Untersuchung findet als technische Inquisitio in der Form des Rüge-
verfahrens statt. Siehe unten § 117. Daſs solche Inquisitiones schon unter Karl
d. Grossen vorgekommen waren, bezeugt das missatische Placitum von Riziano in
Istrien aus dem Jahre 804 bei Carli, Antichità Italiche IV 5 ff., und auszugsweise
bei Waitz, VG III 488 ff.
24 Cap. de missis instruendis v. J. 829, II 8. Cap. miss. Theod. II v. J.
805, c. 12, I 124. Cap. omnibus cognita fac. 801—814, c. 3, I 144. Cap. miss.
Worm. v. J. 829, c. 2, II 15.
25 Schon Eichhorn I 627 bezeichnet sie als Provinziallandtage. Sie haben
in der That einen umfassenderen Charakter als die gewöhnlichen missatischen Placita,
die kein so allgemeines Aufgebot der Beamtenschaft erforderten. Doch konnte
auch der Landtag sich mit gerichtlicher Thätigkeit befassen und insofern zugleich
Gerichtstag sein. Sohm a. O. I 485 unterscheidet die Landtage als Beamten-
versammlungen und die missatischen Gerichte als Hundertschaftsversammlungen.
Die ersteren sollen jährlich viermal, aber in demselben Monat, die letzteren in vier
verschiedenen Monaten, aber ohne Beschränkung der Zahl, abgehalten worden sein.
Sohms Ansicht verliert ihre Stütze durch den Text, welchen c. 8 des Cap. de
iusticiis faciendis bei Boretius Cap. I 177 erhielt. Vgl. Waitz, VG III 467,
Anm. 1. Sie versagt auch bei Betrachtung einzelner Urkunden über missatische
Versammlungen. Meichelbeck Nr. 118 soll ein Landtag sein, weil nur Beamte
als testes genannt sind, Meichelbeck Nr. 125 ein Gerichtstag wegen der Formel:
ad causas diversas audiendas et eas recto iudicio finiendas. Allein auch in M.
Nr. 118 heiſst es: ad universorum causas audiendas vel recta iudicia terminanda.
Meichelbeck Nr. 122 soll ein Landtag sein wegen der Formel: ad mandatum d.
imperatoris audiendum, sicut ipse praecepit imperator. Allein unter den Zeugen
finden sich etwa zwanzig, die keinen Amtstitel führen.
26 Es trifft in der Hauptsache zu, was schon Eichhorn I 642 f. sagt, daſs
das missatische Gericht eigentlich die Stelle des Königsgerichtes vertrat.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 13
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[193/0211] § 85. Die königlichen Missi. sich die ordentlichen Beamten hatten zu Schulden kommen lassen 23. Höhere Beamte müssen sich wegen der Vergehen, deren man sie be- zichtigt, vor dem Könige verantworten. Centenare, Schöffen und Vögte werden, wenn schuldig befunden, von den Missi abgesetzt 24. Abgesehen von diesen Versammlungen, welche zur Kontrolle der Verwaltung dienen und als Landtage 25 bezeichnet werden können, halten die Missi besondere Gerichtstage ab, um die Rechtspflege der ordentlichen Beamten zu ergänzen. Sie sind bestellt ‘ad iustitias faciendas’. Die missatischen Gerichte stellen sich als Abspaltungen des Königsgerichtes dar 26. Wie das Königsgericht zu seiner Besetzung nicht das Gerichtsvolk eines bestimmten Gerichtsbezirkes verlangte, war auch das missatische Gericht nicht an die ordentliche Dingfolge der Gerichtspflichtigen einer bestimmten Malstätte gebunden. Allent- halben mochten sich die Missi aus den öffentlichen Beamten, aus den königlichen Vassallen, aus den Schöffen oder Rechtsprechern die er- forderliche Zahl von Urteilfindern verschaffen. Doch konnten die 23 Die Untersuchung findet als technische Inquisitio in der Form des Rüge- verfahrens statt. Siehe unten § 117. Daſs solche Inquisitiones schon unter Karl d. Grossen vorgekommen waren, bezeugt das missatische Placitum von Riziano in Istrien aus dem Jahre 804 bei Carli, Antichità Italiche IV 5 ff., und auszugsweise bei Waitz, VG III 488 ff. 24 Cap. de missis instruendis v. J. 829, II 8. Cap. miss. Theod. II v. J. 805, c. 12, I 124. Cap. omnibus cognita fac. 801—814, c. 3, I 144. Cap. miss. Worm. v. J. 829, c. 2, II 15. 25 Schon Eichhorn I 627 bezeichnet sie als Provinziallandtage. Sie haben in der That einen umfassenderen Charakter als die gewöhnlichen missatischen Placita, die kein so allgemeines Aufgebot der Beamtenschaft erforderten. Doch konnte auch der Landtag sich mit gerichtlicher Thätigkeit befassen und insofern zugleich Gerichtstag sein. Sohm a. O. I 485 unterscheidet die Landtage als Beamten- versammlungen und die missatischen Gerichte als Hundertschaftsversammlungen. Die ersteren sollen jährlich viermal, aber in demselben Monat, die letzteren in vier verschiedenen Monaten, aber ohne Beschränkung der Zahl, abgehalten worden sein. Sohms Ansicht verliert ihre Stütze durch den Text, welchen c. 8 des Cap. de iusticiis faciendis bei Boretius Cap. I 177 erhielt. Vgl. Waitz, VG III 467, Anm. 1. Sie versagt auch bei Betrachtung einzelner Urkunden über missatische Versammlungen. Meichelbeck Nr. 118 soll ein Landtag sein, weil nur Beamte als testes genannt sind, Meichelbeck Nr. 125 ein Gerichtstag wegen der Formel: ad causas diversas audiendas et eas recto iudicio finiendas. Allein auch in M. Nr. 118 heiſst es: ad universorum causas audiendas vel recta iudicia terminanda. Meichelbeck Nr. 122 soll ein Landtag sein wegen der Formel: ad mandatum d. imperatoris audiendum, sicut ipse praecepit imperator. Allein unter den Zeugen finden sich etwa zwanzig, die keinen Amtstitel führen. 26 Es trifft in der Hauptsache zu, was schon Eichhorn I 642 f. sagt, daſs das missatische Gericht eigentlich die Stelle des Königsgerichtes vertrat. Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 13

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/211>, abgerufen am 24.11.2024.