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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 43. Die Leges Wisigothorum.
Konversion der arianischen Westgoten eine Reihe legislativer Reformen
veranlasste. Dass aber Reccared eine neue Redaktion der Gesetz-
sammlung Leovigilds vorgenommen habe, wird durch das unsichere
Zeugnis des Lukas von Tuy nicht genügend beglaubigt. Einschneidend
kann diese Redaktion Reccareds nicht gewesen sein, weil Isidor, sein
Lobredner, darüber schweigt. Wahrscheinlich begnügte sich Reccared
damit, seine Novellen der Sammlung Leovigilds anzuhängen. In den
vier Dezennien, welche von dem Tode Reccareds bis zum Regierungs-
antritt des Königs Chindasuinth (641) verflossen, war die Gesetz-
gebung des Westgotenreiches, wie es scheint, in geringem Masse
thätig. Mit Sicherheit sind nur zwei Judengesetze des Königs Sisibut
(612--620) beglaubigt 30. Diese Periode verhältnismässigen Stillstandes
mag den Anlass gegeben haben, dass man, als die Gesetzgebung seit
Chindasuinth wieder in regeren Fluss gekommen war, den Rechtsstoff,
welcher in den vor dieser Zeit abgeschlossenen Sammlungen aufgehäuft
war, als Leges antiquae bezeichnete.

2. Das Gesetzbuch Reckessuinths. Die Lex Wisigothorum
ist uns in verschiedenen Redaktionen erhalten 31. Die älteste der uns
überlieferten Formen stammt von König Reckessuinth, der 649--672
regierte. Ihrer Abfassung ging ein Umschwung in den Zielen der
westgotischen Gesetzgebung und in den Rechtszuständen des Reiches
voraus, der schon unter dem Vorgänger Reckessuinths, nämlich unter
König Chindasuinth (641--652) eingeleitet worden war. Von Chinda-
suinth besitzen wir in der Lex Wisigothorum zahlreiche Gesetze. Sie
erstrecken sich über das gesamte Rechtsgebiet, greifen insbesondere

30 Lex Wisig. XII 2, 13. 14. Unsicher sind die Inskriptionen Gundomar
(610--612) Lex Wisig. IV 2, 19, im Codex Leg. als Antiqua, im Remig. u. Vat.
auf den Namen Chindasuinths, und Suinthila (621--631) IV 3, 3 (bei Lindenbruch
Ant.) und IV 4, 1 (bei Lindenbruch sine inscr.). Siehe Dahn, Studien S 48. 49.
31 Von den spanischen Handschriften der Lex Wisig. sind die von Leon (Codex
Legionensis), Alcala, S. Juan de los Reyes u. Cod. Matrit. S 170 nicht mehr aufzufinden.
Die Leoner Handschrift hat der Madrider Ausgabe zur hauptsächlichen Grundlage
gedient. Helfferich u. Dahn stellen den Legionensis sehr hoch. Nach Bluhme
ist aber seine grössere Vollständigkeit nur die Frucht einer kritiklosen Kompilation
verschiedener Redaktionen und erscheinen die Inskriptionen dieser Handschrift
meistens als ganz gedankenlose Kombinationen. Für die älteste Gestalt der Lex
kommen nach Bluhme hauptsächlich der Cod. Vatic. Christ. 1024 und Cod. Par.
4668, früher in St. Remy zu Rheims, daher auch Codex Remigianus, in Betracht,
welche die Redaktion Reckessuinths enthalten. Cod. Par. 4418, wahrscheinlich in
Lindenbruchs Ausgabe benutzt, bietet nach Bluhme den reinen Text eines von
Erwig 682 publizierten Gesetzbuchs. Cod. Par. 4667 sei die Erwigiana in wenig
erweiterter Gestalt.

§ 43. Die Leges Wisigothorum.
Konversion der arianischen Westgoten eine Reihe legislativer Reformen
veranlaſste. Daſs aber Reccared eine neue Redaktion der Gesetz-
sammlung Leovigilds vorgenommen habe, wird durch das unsichere
Zeugnis des Lukas von Tuy nicht genügend beglaubigt. Einschneidend
kann diese Redaktion Reccareds nicht gewesen sein, weil Isidor, sein
Lobredner, darüber schweigt. Wahrscheinlich begnügte sich Reccared
damit, seine Novellen der Sammlung Leovigilds anzuhängen. In den
vier Dezennien, welche von dem Tode Reccareds bis zum Regierungs-
antritt des Königs Chindasuinth (641) verflossen, war die Gesetz-
gebung des Westgotenreiches, wie es scheint, in geringem Maſse
thätig. Mit Sicherheit sind nur zwei Judengesetze des Königs Sisibut
(612—620) beglaubigt 30. Diese Periode verhältnismäſsigen Stillstandes
mag den Anlaſs gegeben haben, daſs man, als die Gesetzgebung seit
Chindasuinth wieder in regeren Fluſs gekommen war, den Rechtsstoff,
welcher in den vor dieser Zeit abgeschlossenen Sammlungen aufgehäuft
war, als Leges antiquae bezeichnete.

2. Das Gesetzbuch Reckessuinths. Die Lex Wisigothorum
ist uns in verschiedenen Redaktionen erhalten 31. Die älteste der uns
überlieferten Formen stammt von König Reckessuinth, der 649—672
regierte. Ihrer Abfassung ging ein Umschwung in den Zielen der
westgotischen Gesetzgebung und in den Rechtszuständen des Reiches
voraus, der schon unter dem Vorgänger Reckessuinths, nämlich unter
König Chindasuinth (641—652) eingeleitet worden war. Von Chinda-
suinth besitzen wir in der Lex Wisigothorum zahlreiche Gesetze. Sie
erstrecken sich über das gesamte Rechtsgebiet, greifen insbesondere

30 Lex Wisig. XII 2, 13. 14. Unsicher sind die Inskriptionen Gundomar
(610—612) Lex Wisig. IV 2, 19, im Codex Leg. als Antiqua, im Remig. u. Vat.
auf den Namen Chindasuinths, und Suinthila (621—631) IV 3, 3 (bei Lindenbruch
Ant.) und IV 4, 1 (bei Lindenbruch sine inscr.). Siehe Dahn, Studien S 48. 49.
31 Von den spanischen Handschriften der Lex Wisig. sind die von Leon (Codex
Legionensis), Alcalá, S. Juan de los Reyes u. Cod. Matrit. S 170 nicht mehr aufzufinden.
Die Leoner Handschrift hat der Madrider Ausgabe zur hauptsächlichen Grundlage
gedient. Helfferich u. Dahn stellen den Legionensis sehr hoch. Nach Bluhme
ist aber seine gröſsere Vollständigkeit nur die Frucht einer kritiklosen Kompilation
verschiedener Redaktionen und erscheinen die Inskriptionen dieser Handschrift
meistens als ganz gedankenlose Kombinationen. Für die älteste Gestalt der Lex
kommen nach Bluhme hauptsächlich der Cod. Vatic. Christ. 1024 und Cod. Par.
4668, früher in St. Remy zu Rheims, daher auch Codex Remigianus, in Betracht,
welche die Redaktion Reckessuinths enthalten. Cod. Par. 4418, wahrscheinlich in
Lindenbruchs Ausgabe benutzt, bietet nach Bluhme den reinen Text eines von
Erwig 682 publizierten Gesetzbuchs. Cod. Par. 4667 sei die Erwigiana in wenig
erweiterter Gestalt.
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[327/0345] § 43. Die Leges Wisigothorum. Konversion der arianischen Westgoten eine Reihe legislativer Reformen veranlaſste. Daſs aber Reccared eine neue Redaktion der Gesetz- sammlung Leovigilds vorgenommen habe, wird durch das unsichere Zeugnis des Lukas von Tuy nicht genügend beglaubigt. Einschneidend kann diese Redaktion Reccareds nicht gewesen sein, weil Isidor, sein Lobredner, darüber schweigt. Wahrscheinlich begnügte sich Reccared damit, seine Novellen der Sammlung Leovigilds anzuhängen. In den vier Dezennien, welche von dem Tode Reccareds bis zum Regierungs- antritt des Königs Chindasuinth (641) verflossen, war die Gesetz- gebung des Westgotenreiches, wie es scheint, in geringem Maſse thätig. Mit Sicherheit sind nur zwei Judengesetze des Königs Sisibut (612—620) beglaubigt 30. Diese Periode verhältnismäſsigen Stillstandes mag den Anlaſs gegeben haben, daſs man, als die Gesetzgebung seit Chindasuinth wieder in regeren Fluſs gekommen war, den Rechtsstoff, welcher in den vor dieser Zeit abgeschlossenen Sammlungen aufgehäuft war, als Leges antiquae bezeichnete. 2. Das Gesetzbuch Reckessuinths. Die Lex Wisigothorum ist uns in verschiedenen Redaktionen erhalten 31. Die älteste der uns überlieferten Formen stammt von König Reckessuinth, der 649—672 regierte. Ihrer Abfassung ging ein Umschwung in den Zielen der westgotischen Gesetzgebung und in den Rechtszuständen des Reiches voraus, der schon unter dem Vorgänger Reckessuinths, nämlich unter König Chindasuinth (641—652) eingeleitet worden war. Von Chinda- suinth besitzen wir in der Lex Wisigothorum zahlreiche Gesetze. Sie erstrecken sich über das gesamte Rechtsgebiet, greifen insbesondere 30 Lex Wisig. XII 2, 13. 14. Unsicher sind die Inskriptionen Gundomar (610—612) Lex Wisig. IV 2, 19, im Codex Leg. als Antiqua, im Remig. u. Vat. auf den Namen Chindasuinths, und Suinthila (621—631) IV 3, 3 (bei Lindenbruch Ant.) und IV 4, 1 (bei Lindenbruch sine inscr.). Siehe Dahn, Studien S 48. 49. 31 Von den spanischen Handschriften der Lex Wisig. sind die von Leon (Codex Legionensis), Alcalá, S. Juan de los Reyes u. Cod. Matrit. S 170 nicht mehr aufzufinden. Die Leoner Handschrift hat der Madrider Ausgabe zur hauptsächlichen Grundlage gedient. Helfferich u. Dahn stellen den Legionensis sehr hoch. Nach Bluhme ist aber seine gröſsere Vollständigkeit nur die Frucht einer kritiklosen Kompilation verschiedener Redaktionen und erscheinen die Inskriptionen dieser Handschrift meistens als ganz gedankenlose Kombinationen. Für die älteste Gestalt der Lex kommen nach Bluhme hauptsächlich der Cod. Vatic. Christ. 1024 und Cod. Par. 4668, früher in St. Remy zu Rheims, daher auch Codex Remigianus, in Betracht, welche die Redaktion Reckessuinths enthalten. Cod. Par. 4418, wahrscheinlich in Lindenbruchs Ausgabe benutzt, bietet nach Bluhme den reinen Text eines von Erwig 682 publizierten Gesetzbuchs. Cod. Par. 4667 sei die Erwigiana in wenig erweiterter Gestalt.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/345>, abgerufen am 20.07.2024.