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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 43. Die Leges Wisigothorum.
ostgotisches und burgundisches Recht in Geltung getreten waren.
Ihre Heimat scheinen jene Teile der Provence zu sein 27, welche 477
unter die Herrschaft Eurichs, dann in vorübergehenden Besitz der
Burgunder gelangt waren und 510 oder 523 von den Ostgoten er-
worben wurden. Gerade die Mannigfaltigkeit der mit dem Wechsel
der Herrschaft überkommenen Rechtsquellen musste hier das Bedürfnis
nach einer orientierenden Rechtsaufzeichnung erzeugen.

Die Sammlung, welcher die Pariser Fragmente angehören, darf
nicht mit den Leges antiquae der Lex Wisigothorum, das heisst mit
der Gesamtheit der Konstitutionen, die daselbst die Inskription "Antiqua"
aufweisen, identifiziert werden. Der Begriff der Leges antiquae ist ein
weiterer, denn er fasst zum mindesten die westgotische Königsgesetz-
gebung bis zum Ausgange des siebenten Jahrhunderts in sich. Mit
welchem Jahre die zeitliche Grenze zu ziehen ist für den Sinn, in
welchem die Lex Wisigothorum die Inskription Antiqua anwendet,
lässt sich derzeit nicht mit Sicherheit bestimmen, da die aus den
vorliegenden Ausgaben und aus Handschriften bekannten Inskriptionen
vielfach auseinandergehen und erst eine kritische Ausgabe der Lex
in dieser Beziehung feste Grundlagen schaffen dürfte 28. Jedenfalls
schliessen die Leges antiquae die Gesetzgebung Leovigilds in sich,
von welchem uns durch das Zeugnis Isidors sichergestellt ist, dass er
Eurichs Gesetze teils verbesserte, teils beseitigte und durch zahlreiche
eigene Gesetze vermehrte. Auch die Gesetze Reccareds I. fallen
noch sämtlich oder doch zum grössten Teile unter den Begriff der
Leges antiquae. Dass er gesetzgeberisch thätig war, steht fest. Über
zwei Gesetze Reccareds haben wir zuverlässige Nachricht 29 und es
ist mehr als wahrscheinlich, dass die unter seiner Regierung erfolgte

27 Und nicht, wie Zeumer annimmt, das östliche Septimanien.
28 Eine Konstitution des Königs Reckessuinth, Lex Wisig. II 1, 5 nennt die
leges, quas ab antiquitate ius tenemus, im Gegensatz zu den Gesetzen des Königs
Chindasuinth.
29 Ein Gesetz Reccareds I. über den Kindesmord ist uns in den Akten des
3. Konzils von Toledo c. 17 beglaubigt. Ein anderes über die Juden wird in
Lex Wisig. XII 2, 13 erwähnt. Verschiedene Handschriften der Lex weisen durch
ihre Inskriptionen drei Gesetze dem Reccared zu. Lex Wisig. III 5, 2. VI 5, 5.
XII 1, 2 haben in drei spanischen Codices den Namen Reccareds. Gengler,
Grundriss S 133. Wie Bluhme, Textkritik S 18 u. XXVI mitteilt, hat der Cod.
Remigianus dreimal den Namen Reccared, nämlich in III 5, 1. XII 1, 2 und XII
2, 12 Lindenbr. Die zwei ersten Gesetze könnten auch von Reccared II. herrühren,
der aber 621 nur ganz kurze Zeit regierte, so dass seine Autorschaft recht unwahr-
scheinlich ist. Lex Wisig. XII 2, 12 wird durch Sisibuts Gesetz in XII 2, 13 als
eine Konstitution Reccareds sicher gestellt.

§ 43. Die Leges Wisigothorum.
ostgotisches und burgundisches Recht in Geltung getreten waren.
Ihre Heimat scheinen jene Teile der Provence zu sein 27, welche 477
unter die Herrschaft Eurichs, dann in vorübergehenden Besitz der
Burgunder gelangt waren und 510 oder 523 von den Ostgoten er-
worben wurden. Gerade die Mannigfaltigkeit der mit dem Wechsel
der Herrschaft überkommenen Rechtsquellen muſste hier das Bedürfnis
nach einer orientierenden Rechtsaufzeichnung erzeugen.

Die Sammlung, welcher die Pariser Fragmente angehören, darf
nicht mit den Leges antiquae der Lex Wisigothorum, das heiſst mit
der Gesamtheit der Konstitutionen, die daselbst die Inskription „Antiqua“
aufweisen, identifiziert werden. Der Begriff der Leges antiquae ist ein
weiterer, denn er faſst zum mindesten die westgotische Königsgesetz-
gebung bis zum Ausgange des siebenten Jahrhunderts in sich. Mit
welchem Jahre die zeitliche Grenze zu ziehen ist für den Sinn, in
welchem die Lex Wisigothorum die Inskription Antiqua anwendet,
läſst sich derzeit nicht mit Sicherheit bestimmen, da die aus den
vorliegenden Ausgaben und aus Handschriften bekannten Inskriptionen
vielfach auseinandergehen und erst eine kritische Ausgabe der Lex
in dieser Beziehung feste Grundlagen schaffen dürfte 28. Jedenfalls
schlieſsen die Leges antiquae die Gesetzgebung Leovigilds in sich,
von welchem uns durch das Zeugnis Isidors sichergestellt ist, daſs er
Eurichs Gesetze teils verbesserte, teils beseitigte und durch zahlreiche
eigene Gesetze vermehrte. Auch die Gesetze Reccareds I. fallen
noch sämtlich oder doch zum gröſsten Teile unter den Begriff der
Leges antiquae. Daſs er gesetzgeberisch thätig war, steht fest. Über
zwei Gesetze Reccareds haben wir zuverlässige Nachricht 29 und es
ist mehr als wahrscheinlich, daſs die unter seiner Regierung erfolgte

27 Und nicht, wie Zeumer annimmt, das östliche Septimanien.
28 Eine Konstitution des Königs Reckessuinth, Lex Wisig. II 1, 5 nennt die
leges, quas ab antiquitate ius tenemus, im Gegensatz zu den Gesetzen des Königs
Chindasuinth.
29 Ein Gesetz Reccareds I. über den Kindesmord ist uns in den Akten des
3. Konzils von Toledo c. 17 beglaubigt. Ein anderes über die Juden wird in
Lex Wisig. XII 2, 13 erwähnt. Verschiedene Handschriften der Lex weisen durch
ihre Inskriptionen drei Gesetze dem Reccared zu. Lex Wisig. III 5, 2. VI 5, 5.
XII 1, 2 haben in drei spanischen Codices den Namen Reccareds. Gengler,
Grundriſs S 133. Wie Bluhme, Textkritik S 18 u. XXVI mitteilt, hat der Cod.
Remigianus dreimal den Namen Reccared, nämlich in III 5, 1. XII 1, 2 und XII
2, 12 Lindenbr. Die zwei ersten Gesetze könnten auch von Reccared II. herrühren,
der aber 621 nur ganz kurze Zeit regierte, so daſs seine Autorschaft recht unwahr-
scheinlich ist. Lex Wisig. XII 2, 12 wird durch Sisibuts Gesetz in XII 2, 13 als
eine Konstitution Reccareds sicher gestellt.
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[326/0344] § 43. Die Leges Wisigothorum. ostgotisches und burgundisches Recht in Geltung getreten waren. Ihre Heimat scheinen jene Teile der Provence zu sein 27, welche 477 unter die Herrschaft Eurichs, dann in vorübergehenden Besitz der Burgunder gelangt waren und 510 oder 523 von den Ostgoten er- worben wurden. Gerade die Mannigfaltigkeit der mit dem Wechsel der Herrschaft überkommenen Rechtsquellen muſste hier das Bedürfnis nach einer orientierenden Rechtsaufzeichnung erzeugen. Die Sammlung, welcher die Pariser Fragmente angehören, darf nicht mit den Leges antiquae der Lex Wisigothorum, das heiſst mit der Gesamtheit der Konstitutionen, die daselbst die Inskription „Antiqua“ aufweisen, identifiziert werden. Der Begriff der Leges antiquae ist ein weiterer, denn er faſst zum mindesten die westgotische Königsgesetz- gebung bis zum Ausgange des siebenten Jahrhunderts in sich. Mit welchem Jahre die zeitliche Grenze zu ziehen ist für den Sinn, in welchem die Lex Wisigothorum die Inskription Antiqua anwendet, läſst sich derzeit nicht mit Sicherheit bestimmen, da die aus den vorliegenden Ausgaben und aus Handschriften bekannten Inskriptionen vielfach auseinandergehen und erst eine kritische Ausgabe der Lex in dieser Beziehung feste Grundlagen schaffen dürfte 28. Jedenfalls schlieſsen die Leges antiquae die Gesetzgebung Leovigilds in sich, von welchem uns durch das Zeugnis Isidors sichergestellt ist, daſs er Eurichs Gesetze teils verbesserte, teils beseitigte und durch zahlreiche eigene Gesetze vermehrte. Auch die Gesetze Reccareds I. fallen noch sämtlich oder doch zum gröſsten Teile unter den Begriff der Leges antiquae. Daſs er gesetzgeberisch thätig war, steht fest. Über zwei Gesetze Reccareds haben wir zuverlässige Nachricht 29 und es ist mehr als wahrscheinlich, daſs die unter seiner Regierung erfolgte 27 Und nicht, wie Zeumer annimmt, das östliche Septimanien. 28 Eine Konstitution des Königs Reckessuinth, Lex Wisig. II 1, 5 nennt die leges, quas ab antiquitate ius tenemus, im Gegensatz zu den Gesetzen des Königs Chindasuinth. 29 Ein Gesetz Reccareds I. über den Kindesmord ist uns in den Akten des 3. Konzils von Toledo c. 17 beglaubigt. Ein anderes über die Juden wird in Lex Wisig. XII 2, 13 erwähnt. Verschiedene Handschriften der Lex weisen durch ihre Inskriptionen drei Gesetze dem Reccared zu. Lex Wisig. III 5, 2. VI 5, 5. XII 1, 2 haben in drei spanischen Codices den Namen Reccareds. Gengler, Grundriſs S 133. Wie Bluhme, Textkritik S 18 u. XXVI mitteilt, hat der Cod. Remigianus dreimal den Namen Reccared, nämlich in III 5, 1. XII 1, 2 und XII 2, 12 Lindenbr. Die zwei ersten Gesetze könnten auch von Reccared II. herrühren, der aber 621 nur ganz kurze Zeit regierte, so daſs seine Autorschaft recht unwahr- scheinlich ist. Lex Wisig. XII 2, 12 wird durch Sisibuts Gesetz in XII 2, 13 als eine Konstitution Reccareds sicher gestellt.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/344>, abgerufen am 20.07.2024.