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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

Aus der Zeit Tassilos III. und Karls des Grossen besitzen wir
eine Anzahl bairischer Rechtsquellen, welche in den Körper der Lex
nicht mehr aufgenommen worden sind, nämlich:

1. Die Dingolfinger Dekrete von 772, Beschlüsse einer zu Dingol-
fing unter der Leitung Tassilos23) abgehaltenen Versammlung, gewisser-
massen eine bairische carta libertatis, in welcher mit Bezugnahme auf
die Lex Baiuwariorum bestimmte Forderungen der Kirche, des Adels
und des Volkes sichergestellt wurden24).

2. Die Neuchinger Dekrete "de popularibus legibus", eine inhalt-
reiche Novelle zur Lex Baiuwariorum, welche aus den Beschlüssen
einer in den Jahren 774 oder 775 unter Tassilo zu Neuching ab-
gehaltenen Versammlung hervorging und helles Licht wirft auf einzelne
Materien des bairischen Rechtes, über welche die Lex uns im dunkeln
lässt25).

Sowohl die Dingolfinger als auch die Neuchinger Dekrete bilden
handschriftlich einen Anhang der Lex. In der Ingolstädter Hand-
schrift und in einigen anderen Handschriften sind einzelne Kapitel
der Neuchinger Dekrete in den Text der Lex eingefügt worden.

3. Ein Kapitular zur Lex Baiuwariorum von Karl dem Grossen
aus den Jahren 801--813, welches die fränkischen Bannfälle in das
bairische Volksrecht einführt26).

4. Das Capitulare Baiwaricum, eine königliche Instruktion für
bairische Missi, die um das Jahr 810 entstanden sein dürfte27).

Privatarbeit unbestimmter Entstehungszeit ist eine Vergleichung
der Lex Baiuwariorum mit der Lex Alamannorum. Sie zählt 41 der
letzteren eigentümliche Rechtssätze auf, welche der ersteren fehlen28).

positio von 100 solidi fest und ist im übrigen das Vermögen des Totschlägers de
iure dem Herzog verfallen. Diese Bestimmung widerspricht aber dem in Lex Bai.
III 1, VII 4 ausgesprochenen Grundsatz. Erst das Dingolfinger Dekret setzte in
c. 9 Vermögenskonfiskation auf Tötung eines homo principis sibi dilectus. Das
ist IV 31 auf den Pilger ausgedehnt, der als Schützling des Herzogs gedacht wird.
Sonach ist IV 31 jünger wie die Lex Baiuw. Eine nach Tassilos Sturz entstandene
Novelle ist Merkels Appendix II. S. oben S 313 Anm 4.
23) Haec sunt decreta, quae constituit sancta synodus in loco qui dicitur Dingol-
vinga domino Tassilone principe mediante.
24) LL III 459.
25) LL III 464.
26) Cap. I 157.
27) Cap. I 158.
28) LL III 172.
§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

Aus der Zeit Tassilos III. und Karls des Groſsen besitzen wir
eine Anzahl bairischer Rechtsquellen, welche in den Körper der Lex
nicht mehr aufgenommen worden sind, nämlich:

1. Die Dingolfinger Dekrete von 772, Beschlüsse einer zu Dingol-
fing unter der Leitung Tassilos23) abgehaltenen Versammlung, gewisser-
maſsen eine bairische carta libertatis, in welcher mit Bezugnahme auf
die Lex Baiuwariorum bestimmte Forderungen der Kirche, des Adels
und des Volkes sichergestellt wurden24).

2. Die Neuchinger Dekrete „de popularibus legibus“, eine inhalt-
reiche Novelle zur Lex Baiuwariorum, welche aus den Beschlüssen
einer in den Jahren 774 oder 775 unter Tassilo zu Neuching ab-
gehaltenen Versammlung hervorging und helles Licht wirft auf einzelne
Materien des bairischen Rechtes, über welche die Lex uns im dunkeln
läſst25).

Sowohl die Dingolfinger als auch die Neuchinger Dekrete bilden
handschriftlich einen Anhang der Lex. In der Ingolstädter Hand-
schrift und in einigen anderen Handschriften sind einzelne Kapitel
der Neuchinger Dekrete in den Text der Lex eingefügt worden.

3. Ein Kapitular zur Lex Baiuwariorum von Karl dem Groſsen
aus den Jahren 801—813, welches die fränkischen Bannfälle in das
bairische Volksrecht einführt26).

4. Das Capitulare Baiwaricum, eine königliche Instruktion für
bairische Missi, die um das Jahr 810 entstanden sein dürfte27).

Privatarbeit unbestimmter Entstehungszeit ist eine Vergleichung
der Lex Baiuwariorum mit der Lex Alamannorum. Sie zählt 41 der
letzteren eigentümliche Rechtssätze auf, welche der ersteren fehlen28).

positio von 100 solidi fest und ist im übrigen das Vermögen des Totschlägers de
iure dem Herzog verfallen. Diese Bestimmung widerspricht aber dem in Lex Bai.
III 1, VII 4 ausgesprochenen Grundsatz. Erst das Dingolfinger Dekret setzte in
c. 9 Vermögenskonfiskation auf Tötung eines homo principis sibi dilectus. Das
ist IV 31 auf den Pilger ausgedehnt, der als Schützling des Herzogs gedacht wird.
Sonach ist IV 31 jünger wie die Lex Baiuw. Eine nach Tassilos Sturz entstandene
Novelle ist Merkels Appendix II. S. oben S 313 Anm 4.
23) Haec sunt decreta, quae constituit sancta synodus in loco qui dicitur Dingol-
vinga domino Tassilone principe mediante.
24) LL III 459.
25) LL III 464.
26) Cap. I 157.
27) Cap. I 158.
28) LL III 172.
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[319/0337] § 42. Die Lex Baiuwariorum. Aus der Zeit Tassilos III. und Karls des Groſsen besitzen wir eine Anzahl bairischer Rechtsquellen, welche in den Körper der Lex nicht mehr aufgenommen worden sind, nämlich: 1. Die Dingolfinger Dekrete von 772, Beschlüsse einer zu Dingol- fing unter der Leitung Tassilos 23) abgehaltenen Versammlung, gewisser- maſsen eine bairische carta libertatis, in welcher mit Bezugnahme auf die Lex Baiuwariorum bestimmte Forderungen der Kirche, des Adels und des Volkes sichergestellt wurden 24). 2. Die Neuchinger Dekrete „de popularibus legibus“, eine inhalt- reiche Novelle zur Lex Baiuwariorum, welche aus den Beschlüssen einer in den Jahren 774 oder 775 unter Tassilo zu Neuching ab- gehaltenen Versammlung hervorging und helles Licht wirft auf einzelne Materien des bairischen Rechtes, über welche die Lex uns im dunkeln läſst 25). Sowohl die Dingolfinger als auch die Neuchinger Dekrete bilden handschriftlich einen Anhang der Lex. In der Ingolstädter Hand- schrift und in einigen anderen Handschriften sind einzelne Kapitel der Neuchinger Dekrete in den Text der Lex eingefügt worden. 3. Ein Kapitular zur Lex Baiuwariorum von Karl dem Groſsen aus den Jahren 801—813, welches die fränkischen Bannfälle in das bairische Volksrecht einführt 26). 4. Das Capitulare Baiwaricum, eine königliche Instruktion für bairische Missi, die um das Jahr 810 entstanden sein dürfte 27). Privatarbeit unbestimmter Entstehungszeit ist eine Vergleichung der Lex Baiuwariorum mit der Lex Alamannorum. Sie zählt 41 der letzteren eigentümliche Rechtssätze auf, welche der ersteren fehlen 28). 22) 23) Haec sunt decreta, quae constituit sancta synodus in loco qui dicitur Dingol- vinga domino Tassilone principe mediante. 24) LL III 459. 25) LL III 464. 26) Cap. I 157. 27) Cap. I 158. 28) LL III 172. 22) positio von 100 solidi fest und ist im übrigen das Vermögen des Totschlägers de iure dem Herzog verfallen. Diese Bestimmung widerspricht aber dem in Lex Bai. III 1, VII 4 ausgesprochenen Grundsatz. Erst das Dingolfinger Dekret setzte in c. 9 Vermögenskonfiskation auf Tötung eines homo principis sibi dilectus. Das ist IV 31 auf den Pilger ausgedehnt, der als Schützling des Herzogs gedacht wird. Sonach ist IV 31 jünger wie die Lex Baiuw. Eine nach Tassilos Sturz entstandene Novelle ist Merkels Appendix II. S. oben S 313 Anm 4.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/337>, abgerufen am 24.11.2024.