Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 40. Die Lex Ribuaria. Unfreier oder ein Freigelassener des Königs die Würde des Grafenerlangt, muss daher wohl älter sein wie das Edikt Chlothars II. von 614, welches die Ernennung im Gau ansässiger Grafen mit selb- ständigem Vermögen in Aussicht stellte15). Die Bestimmung in Titel 60 c. 7, welche von zwei sich widersprechenden Königsurkunden jede zum Teile gelten lässt, rechnet noch nicht mit dem Zugeständnis Chlothars II., dass die rechtswidrig erlangte Königsurkunde nichtig sein solle16). Die Rechtssätze über die Haftung des Herrn für seine Knechte überlassen es der Wahl des Herrn, ob er den Knecht vor Gericht stellen oder dessen Unthat verantworten wolle, wogegen ein Gesetz Childeberts II. von 596 bereits eine unbedingte Präsentations- pflicht des Herrn statuiert17). Dasselbe Gesetz bedroht den Frauen- raub mit amtlicher Verfolgung und mit Todesstrafe, während die Lex Ribuaria in Titel 34 nur die Zahlung des Wergeldes verlangt. Mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten, welche die Titel 1--31 das Königsgesetz (57--62) gegen Ende des 6., der dritte Teil (65--79) im 7., der vierte (80--89) zu Anfang des 8. Jahrh. entstanden. Dagegen hat E. Mayer S 174 f. die Ansicht aufgestellt, dass die Lex in ihrer Gesamtheit zwischen 633 und 639 ab- gefasst worden sei. Er stützt sich dafür insbesondere auf die Eingangsworte des Tit. 88: hoc autem consensu et consilio seu paterna tradicione et legis consuetudinem super omnia iubemus, indem er übersetzt: Mit väterlicher Zustimmung befehlen wir obendrein. Das Gesetz müsse also von einem König erlassen sein, der Mitregent seines Vaters war. Er findet ihn in Sigibert III., welchem Dagobert 633 oder 634 die Regierung Austrasiens übertrug. Allein jene Übersetzung ist nicht haltbar. Die Stelle sagt nur: mit Zustimmung und Rat gemäss väterlicher Überlieferung und hergebrachtem Recht befehlen wir vor allem. Neuestens hat Schröder für Sohms 2. und 3. Teil der Lex geltend gemacht, dass sie frühestens im 7. Jahrh., auf alle Fälle nach 614 entstanden seien. Er schliesst dies aus der den meisten A-Hand- schriften in Tit. 33. 67 c. 5 und 75 eigentümlichen althochdeutschen Form des Wortes staffolus. Da aber die meisten Handschriften der B-Klasse und einige der A-Klasse stapplus oder auch stabulum haben, so könnte aus Schröders Argument ein sicherer Schluss höchstens auf das Alter der Textform der A-Klasse, nicht aber auf das Alter der Lex selbst gezogen werden. 15) Cap. I 22, c. 12. 16) Praec. Chloth. c. 5, Cap. I 19. Bresslau, Forsch. zur deutschen Gesch. XXVI 17. Auf demselben Standpunkte steht bereits der dem Königsgesetz angehörige Tit. 57, der im Gegensatz zum älteren Rechte das rechtswidrig erlangte praeceptum denariale als unwirksam behandelt. Brunner, Freilassung durch Schatzwurf S 59. 17) Lex Rib. 28--30. Cap. I 17, c. 10. 20*
§ 40. Die Lex Ribuaria. Unfreier oder ein Freigelassener des Königs die Würde des Grafenerlangt, muſs daher wohl älter sein wie das Edikt Chlothars II. von 614, welches die Ernennung im Gau ansässiger Grafen mit selb- ständigem Vermögen in Aussicht stellte15). Die Bestimmung in Titel 60 c. 7, welche von zwei sich widersprechenden Königsurkunden jede zum Teile gelten läſst, rechnet noch nicht mit dem Zugeständnis Chlothars II., daſs die rechtswidrig erlangte Königsurkunde nichtig sein solle16). Die Rechtssätze über die Haftung des Herrn für seine Knechte überlassen es der Wahl des Herrn, ob er den Knecht vor Gericht stellen oder dessen Unthat verantworten wolle, wogegen ein Gesetz Childeberts II. von 596 bereits eine unbedingte Präsentations- pflicht des Herrn statuiert17). Dasselbe Gesetz bedroht den Frauen- raub mit amtlicher Verfolgung und mit Todesstrafe, während die Lex Ribuaria in Titel 34 nur die Zahlung des Wergeldes verlangt. Mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten, welche die Titel 1—31 das Königsgesetz (57—62) gegen Ende des 6., der dritte Teil (65—79) im 7., der vierte (80—89) zu Anfang des 8. Jahrh. entstanden. Dagegen hat E. Mayer S 174 f. die Ansicht aufgestellt, daſs die Lex in ihrer Gesamtheit zwischen 633 und 639 ab- gefaſst worden sei. Er stützt sich dafür insbesondere auf die Eingangsworte des Tit. 88: hoc autem consensu et consilio seu paterna tradicione et legis consuetudinem super omnia iubemus, indem er übersetzt: Mit väterlicher Zustimmung befehlen wir obendrein. Das Gesetz müsse also von einem König erlassen sein, der Mitregent seines Vaters war. Er findet ihn in Sigibert III., welchem Dagobert 633 oder 634 die Regierung Austrasiens übertrug. Allein jene Übersetzung ist nicht haltbar. Die Stelle sagt nur: mit Zustimmung und Rat gemäſs väterlicher Überlieferung und hergebrachtem Recht befehlen wir vor allem. Neuestens hat Schröder für Sohms 2. und 3. Teil der Lex geltend gemacht, daſs sie frühestens im 7. Jahrh., auf alle Fälle nach 614 entstanden seien. Er schlieſst dies aus der den meisten A-Hand- schriften in Tit. 33. 67 c. 5 und 75 eigentümlichen althochdeutschen Form des Wortes staffolus. Da aber die meisten Handschriften der B-Klasse und einige der A-Klasse stapplus oder auch stabulum haben, so könnte aus Schröders Argument ein sicherer Schluſs höchstens auf das Alter der Textform der A-Klasse, nicht aber auf das Alter der Lex selbst gezogen werden. 15) Cap. I 22, c. 12. 16) Praec. Chloth. c. 5, Cap. I 19. Breſslau, Forsch. zur deutschen Gesch. XXVI 17. Auf demselben Standpunkte steht bereits der dem Königsgesetz angehörige Tit. 57, der im Gegensatz zum älteren Rechte das rechtswidrig erlangte praeceptum denariale als unwirksam behandelt. Brunner, Freilassung durch Schatzwurf S 59. 17) Lex Rib. 28—30. Cap. I 17, c. 10. 20*
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§ 40. Die Lex Ribuaria.
Unfreier oder ein Freigelassener des Königs die Würde des Grafen
erlangt, muſs daher wohl älter sein wie das Edikt Chlothars II. von
614, welches die Ernennung im Gau ansässiger Grafen mit selb-
ständigem Vermögen in Aussicht stellte 15). Die Bestimmung in Titel
60 c. 7, welche von zwei sich widersprechenden Königsurkunden jede
zum Teile gelten läſst, rechnet noch nicht mit dem Zugeständnis
Chlothars II., daſs die rechtswidrig erlangte Königsurkunde nichtig
sein solle 16). Die Rechtssätze über die Haftung des Herrn für seine
Knechte überlassen es der Wahl des Herrn, ob er den Knecht vor
Gericht stellen oder dessen Unthat verantworten wolle, wogegen ein
Gesetz Childeberts II. von 596 bereits eine unbedingte Präsentations-
pflicht des Herrn statuiert 17). Dasselbe Gesetz bedroht den Frauen-
raub mit amtlicher Verfolgung und mit Todesstrafe, während die
Lex Ribuaria in Titel 34 nur die Zahlung des Wergeldes verlangt.
Mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten, welche die Titel 1—31
einerseits, die Titel 32—64 andererseits aufweisen, ist es unwahr-
scheinlich, daſs sie sämtlich aus einer einheitlichen und gleichzeitigen
Satzung hervorgegangen sind. Es empfiehlt sich vielmehr, sie auf
zwei Satzungen zurückzuführen, die vielleicht zeitlich nicht weit aus-
einander liegen, aber beide noch vor 596 entstanden sind.
14)
15) Cap. I 22, c. 12.
16) Praec. Chloth. c. 5, Cap. I 19. Breſslau, Forsch. zur deutschen Gesch.
XXVI 17. Auf demselben Standpunkte steht bereits der dem Königsgesetz angehörige
Tit. 57, der im Gegensatz zum älteren Rechte das rechtswidrig erlangte praeceptum
denariale als unwirksam behandelt. Brunner, Freilassung durch Schatzwurf S 59.
17) Lex Rib. 28—30. Cap. I 17, c. 10.
14) das Königsgesetz (57—62) gegen Ende des 6., der dritte Teil (65—79) im 7., der
vierte (80—89) zu Anfang des 8. Jahrh. entstanden. Dagegen hat E. Mayer S 174 f.
die Ansicht aufgestellt, daſs die Lex in ihrer Gesamtheit zwischen 633 und 639 ab-
gefaſst worden sei. Er stützt sich dafür insbesondere auf die Eingangsworte des
Tit. 88: hoc autem consensu et consilio seu paterna tradicione et legis consuetudinem
super omnia iubemus, indem er übersetzt: Mit väterlicher Zustimmung befehlen wir
obendrein. Das Gesetz müsse also von einem König erlassen sein, der Mitregent
seines Vaters war. Er findet ihn in Sigibert III., welchem Dagobert 633 oder 634
die Regierung Austrasiens übertrug. Allein jene Übersetzung ist nicht haltbar. Die
Stelle sagt nur: mit Zustimmung und Rat gemäſs väterlicher Überlieferung und
hergebrachtem Recht befehlen wir vor allem. Neuestens hat Schröder für Sohms
2. und 3. Teil der Lex geltend gemacht, daſs sie frühestens im 7. Jahrh., auf alle
Fälle nach 614 entstanden seien. Er schlieſst dies aus der den meisten A-Hand-
schriften in Tit. 33. 67 c. 5 und 75 eigentümlichen althochdeutschen Form des
Wortes staffolus. Da aber die meisten Handschriften der B-Klasse und einige der
A-Klasse stapplus oder auch stabulum haben, so könnte aus Schröders Argument
ein sicherer Schluſs höchstens auf das Alter der Textform der A-Klasse, nicht aber
auf das Alter der Lex selbst gezogen werden.
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