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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
fränkischen Reiche nicht jene gesellschaftlichen Zustände ein, welche
den Verfall des römischen Reiches kennzeichnen. Bauernkriege, wie
sie das soziale Elend des vierten und fünften Jahrhunderts in Gallien
erzeugt hatte, brachen im fränkischen Reiche nicht aus. Die Ver-
schiebung der Besitzverhältnisse vollzog sich hier, ohne jene soziale
Spannung hervorzurufen, welche sich in Revolutionen Luft macht. Denn
mit der Ansammlung grossen Grundbesitzes ging die Bildung zahl-
reicher Leiheverhältnisse Hand in Hand, welche die Nutzungen von
Grund und Boden unter viele einzelne verteilten. Auch in den aus-
gedehntesten Grundwirtschaften griff kein Grossbetrieb, keine Lati-
fundienwirtschaft Platz. In der Regel bildete die Grundherrschaft
keinen zusammenhängenden Komplex, sondern setzte sie sich aus
vielen in verschiedenen Gegenden zerstreuten Hufen zusammen19.
Oft ging das Anwachsen der Grundherrschaft in der Weise vor sich,
dass der Grundherr rechtlich verpflichtet war, die früheren Eigentümer
der erworbenen Hufen als Hintersassen darauf sitzen zu lassen. Auch
wäre die Zahl der unfreien Arbeitskräfte, obzwar sie infolge der Er-
oberungen namhaften Zuwachs erhalten hatte, immer noch zu gering20
gewesen, um wahren Grossbetrieb einzuführen, der auch in der galli-
schen Bodenwirtschaft der römischen Zeit nur ausnahmsweise vor-
gekommen sein kann21. Liten und Kolonen waren gegen ständige
Tagwerkerdienste durch ihre rechtliche Stellung geschützt22. Freie
Arbeitskräfte vermochte man für den Grund und Boden nur auf dem
Wege der Güterleihe zu gewinnen. Die Grundherrschaft blieb daher
auf die Parzellenwirtschaft angewiesen, welche auch die Aufsicht und
Leitung des Herrn weniger in Anspruch nahm, als dies bei einer
Grosswirtschaft der Fall gewesen wäre. Nur ein kleiner Teil des
grundherrlichen Bodens wurde vom Herrenhofe aus mittels der Leib-
eigenen desselben unmittelbar bewirtschaftet. Im übrigen waren die
Voll- und Teilhufen mit Zinsbauern besetzt, so dass die Grundherrschaft

19 Pactus pro tenore pacis c. 12, Cap. I 6: de potentibus, qui per diversa possi-
dent. Ed. Chloth. II c. 19, Cap. I 23: potentes, qui in alias possedent regionis ...
20 v. Inama-Sternegg, WG I 70. 237 ff. Geradezu auffallend ist die ge-
ringe Vermehrung der Leibeigenen, wie sie a. O. S 239 an der Hand der Urkunden
nachgewiesen ist. In der Tabelle S 514 daselbst kommen auf 1136 erwachsene
Unfreie nur 1146 Kinder.
21 Mommsen, Die italische Bodenteilung, Hermes XIX 408: "Eigentliche
Plantagenwirtschaft mit gefesselten Feldsklavenherden ist in dem Italien der Kaiser-
zeit überhaupt nur ausnahmsweise und missbräuchlich vorgekommen, vielmehr hat
die italische Grosswirtschaft der Kaiserzeit regelmässig aus einem Komplex von
Kleinwirtschaften bestanden."
22 Der römische Kolonat war nicht auf die Grosswirtschaft berechnet.

§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.
fränkischen Reiche nicht jene gesellschaftlichen Zustände ein, welche
den Verfall des römischen Reiches kennzeichnen. Bauernkriege, wie
sie das soziale Elend des vierten und fünften Jahrhunderts in Gallien
erzeugt hatte, brachen im fränkischen Reiche nicht aus. Die Ver-
schiebung der Besitzverhältnisse vollzog sich hier, ohne jene soziale
Spannung hervorzurufen, welche sich in Revolutionen Luft macht. Denn
mit der Ansammlung groſsen Grundbesitzes ging die Bildung zahl-
reicher Leiheverhältnisse Hand in Hand, welche die Nutzungen von
Grund und Boden unter viele einzelne verteilten. Auch in den aus-
gedehntesten Grundwirtschaften griff kein Groſsbetrieb, keine Lati-
fundienwirtschaft Platz. In der Regel bildete die Grundherrschaft
keinen zusammenhängenden Komplex, sondern setzte sie sich aus
vielen in verschiedenen Gegenden zerstreuten Hufen zusammen19.
Oft ging das Anwachsen der Grundherrschaft in der Weise vor sich,
daſs der Grundherr rechtlich verpflichtet war, die früheren Eigentümer
der erworbenen Hufen als Hintersassen darauf sitzen zu lassen. Auch
wäre die Zahl der unfreien Arbeitskräfte, obzwar sie infolge der Er-
oberungen namhaften Zuwachs erhalten hatte, immer noch zu gering20
gewesen, um wahren Groſsbetrieb einzuführen, der auch in der galli-
schen Bodenwirtschaft der römischen Zeit nur ausnahmsweise vor-
gekommen sein kann21. Liten und Kolonen waren gegen ständige
Tagwerkerdienste durch ihre rechtliche Stellung geschützt22. Freie
Arbeitskräfte vermochte man für den Grund und Boden nur auf dem
Wege der Güterleihe zu gewinnen. Die Grundherrschaft blieb daher
auf die Parzellenwirtschaft angewiesen, welche auch die Aufsicht und
Leitung des Herrn weniger in Anspruch nahm, als dies bei einer
Groſswirtschaft der Fall gewesen wäre. Nur ein kleiner Teil des
grundherrlichen Bodens wurde vom Herrenhofe aus mittels der Leib-
eigenen desselben unmittelbar bewirtschaftet. Im übrigen waren die
Voll- und Teilhufen mit Zinsbauern besetzt, so daſs die Grundherrschaft

19 Pactus pro tenore pacis c. 12, Cap. I 6: de potentibus, qui per diversa possi-
dent. Ed. Chloth. II c. 19, Cap. I 23: potentes, qui in alias possedent regionis …
20 v. Inama-Sternegg, WG I 70. 237 ff. Geradezu auffallend ist die ge-
ringe Vermehrung der Leibeigenen, wie sie a. O. S 239 an der Hand der Urkunden
nachgewiesen ist. In der Tabelle S 514 daselbst kommen auf 1136 erwachsene
Unfreie nur 1146 Kinder.
21 Mommsen, Die italische Bodenteilung, Hermes XIX 408: „Eigentliche
Plantagenwirtschaft mit gefesselten Feldsklavenherden ist in dem Italien der Kaiser-
zeit überhaupt nur ausnahmsweise und miſsbräuchlich vorgekommen, vielmehr hat
die italische Groſswirtschaft der Kaiserzeit regelmäſsig aus einem Komplex von
Kleinwirtschaften bestanden.“
22 Der römische Kolonat war nicht auf die Groſswirtschaft berechnet.
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[208/0226] § 26. Grundherrschaften und Landleihe. fränkischen Reiche nicht jene gesellschaftlichen Zustände ein, welche den Verfall des römischen Reiches kennzeichnen. Bauernkriege, wie sie das soziale Elend des vierten und fünften Jahrhunderts in Gallien erzeugt hatte, brachen im fränkischen Reiche nicht aus. Die Ver- schiebung der Besitzverhältnisse vollzog sich hier, ohne jene soziale Spannung hervorzurufen, welche sich in Revolutionen Luft macht. Denn mit der Ansammlung groſsen Grundbesitzes ging die Bildung zahl- reicher Leiheverhältnisse Hand in Hand, welche die Nutzungen von Grund und Boden unter viele einzelne verteilten. Auch in den aus- gedehntesten Grundwirtschaften griff kein Groſsbetrieb, keine Lati- fundienwirtschaft Platz. In der Regel bildete die Grundherrschaft keinen zusammenhängenden Komplex, sondern setzte sie sich aus vielen in verschiedenen Gegenden zerstreuten Hufen zusammen 19. Oft ging das Anwachsen der Grundherrschaft in der Weise vor sich, daſs der Grundherr rechtlich verpflichtet war, die früheren Eigentümer der erworbenen Hufen als Hintersassen darauf sitzen zu lassen. Auch wäre die Zahl der unfreien Arbeitskräfte, obzwar sie infolge der Er- oberungen namhaften Zuwachs erhalten hatte, immer noch zu gering 20 gewesen, um wahren Groſsbetrieb einzuführen, der auch in der galli- schen Bodenwirtschaft der römischen Zeit nur ausnahmsweise vor- gekommen sein kann 21. Liten und Kolonen waren gegen ständige Tagwerkerdienste durch ihre rechtliche Stellung geschützt 22. Freie Arbeitskräfte vermochte man für den Grund und Boden nur auf dem Wege der Güterleihe zu gewinnen. Die Grundherrschaft blieb daher auf die Parzellenwirtschaft angewiesen, welche auch die Aufsicht und Leitung des Herrn weniger in Anspruch nahm, als dies bei einer Groſswirtschaft der Fall gewesen wäre. Nur ein kleiner Teil des grundherrlichen Bodens wurde vom Herrenhofe aus mittels der Leib- eigenen desselben unmittelbar bewirtschaftet. Im übrigen waren die Voll- und Teilhufen mit Zinsbauern besetzt, so daſs die Grundherrschaft 19 Pactus pro tenore pacis c. 12, Cap. I 6: de potentibus, qui per diversa possi- dent. Ed. Chloth. II c. 19, Cap. I 23: potentes, qui in alias possedent regionis … 20 v. Inama-Sternegg, WG I 70. 237 ff. Geradezu auffallend ist die ge- ringe Vermehrung der Leibeigenen, wie sie a. O. S 239 an der Hand der Urkunden nachgewiesen ist. In der Tabelle S 514 daselbst kommen auf 1136 erwachsene Unfreie nur 1146 Kinder. 21 Mommsen, Die italische Bodenteilung, Hermes XIX 408: „Eigentliche Plantagenwirtschaft mit gefesselten Feldsklavenherden ist in dem Italien der Kaiser- zeit überhaupt nur ausnahmsweise und miſsbräuchlich vorgekommen, vielmehr hat die italische Groſswirtschaft der Kaiserzeit regelmäſsig aus einem Komplex von Kleinwirtschaften bestanden.“ 22 Der römische Kolonat war nicht auf die Groſswirtschaft berechnet.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/226>, abgerufen am 22.11.2024.