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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände
hatte. Die Erbpachtverhältnisse, wie sie sich seit dem Ausgange des
vierten Jahrhunderts an jenen Gütern gebildet hatten, blieben trotz
des Besitzwechsels bestehen und lassen sich in den Gebieten von
Angers und Tours bis in das siebente und achte Jahrhundert ver-
folgen. Der Erbpächter zahlte einen Zins und konnte das Erbpacht-
gut (terra conducta) beliebig veräussern 26. Vereinzelt findet sich in
fränkischer Zeit noch die römische Teilpacht, colonia partiaria 27, bei
welcher ein Teil der Früchte als Pachtzins bezahlt wurde, doch hat
sie in Gallien kaum die Rolle gespielt wie in Italien, wo sie inner-
halb der sogenannten libellarischen Pachtverhältnisse fortlebte 28. Die
Emphyteuse, eine Erbpacht, welche im Orient bei dem zur Anpflanzung
verpachteten Ödlande entstanden war, ist zu römischer Zeit in Gallien,
wie im Occident überhaupt, nicht üblich geworden.

In die vorfränkische Periode Galliens reichen die Anfänge einer
vielgestaltigen, hauptsächlich durch die Kirche entwickelten Leiheform,
der sogenannten precaria zurück, welche freilich erst im fränkischen
Reiche erheblichen Einfluss auf die wirtschaftlichen und sozialen Ver-
hältnisse gewann 29. Ihren Ausgangspunkt bildet eine Umgestaltung
des altrömischen Prekariums, die einer Auflösung seines juristischen
Begriffes gleichkam. Das Prekarium des reinen römischen Rechtes
war eine Leihe auf Herrengunst, gewährte dem Beliehenen, dem
Prekaristen weder ein dingliches noch ein obligatorisches Recht und
konnte vom Herrn jederzeit widerrufen werden. Schon das dritte
Jahrhundert kannte die Sitte, dass der Prekarist schriftlich, "per
epistolam" um Überlassung des Landes zu bitten pflegte 30. Ein solches
vom Beliehenen ausgestelltes Schriftstück ist das Kennzeichen der
jüngeren Prekarie, welche uns zu Beginn des sechsten Jahrhunderts
für Burgund sicher bezeugt ist. Doch nahm die epistola den Charakter
einer Urkunde an, sie enthält nicht mehr die schriftliche Bitte des
Prekaristen um Verleihung des Gutes, sondern eine Erklärung des
Beliehenen, durch die er bekennt, dass ihm das Gut auf seine Bitte
unter gewissen Bedingungen verliehen worden sei. Die Urkunde

26 Brunner, Die Erbpacht der Formelsammlungen von Angers und Tours
und die spätrömische Verpachtung der Gemeindegüter, Z2 f. RG V 69. Esmein,
Melanges d'histoire du droit, 1886, S 393 ff.
27 Form. Andeg. 30.
28 Pertile, Storia del diritto italiano IV 286.
29 Loening, Kirchenrecht S 703 ff.
30 Denn Paulus fühlte sich Sententiae V 6, 9 (hg. von Krüger) veranlasst zu
sagen: precario possidere videtur non tantum, qui per epistulam vel qualibet alia
ratione hoc sibi concedi postulavit.

§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände
hatte. Die Erbpachtverhältnisse, wie sie sich seit dem Ausgange des
vierten Jahrhunderts an jenen Gütern gebildet hatten, blieben trotz
des Besitzwechsels bestehen und lassen sich in den Gebieten von
Angers und Tours bis in das siebente und achte Jahrhundert ver-
folgen. Der Erbpächter zahlte einen Zins und konnte das Erbpacht-
gut (terra conducta) beliebig veräuſsern 26. Vereinzelt findet sich in
fränkischer Zeit noch die römische Teilpacht, colonia partiaria 27, bei
welcher ein Teil der Früchte als Pachtzins bezahlt wurde, doch hat
sie in Gallien kaum die Rolle gespielt wie in Italien, wo sie inner-
halb der sogenannten libellarischen Pachtverhältnisse fortlebte 28. Die
Emphyteuse, eine Erbpacht, welche im Orient bei dem zur Anpflanzung
verpachteten Ödlande entstanden war, ist zu römischer Zeit in Gallien,
wie im Occident überhaupt, nicht üblich geworden.

In die vorfränkische Periode Galliens reichen die Anfänge einer
vielgestaltigen, hauptsächlich durch die Kirche entwickelten Leiheform,
der sogenannten precaria zurück, welche freilich erst im fränkischen
Reiche erheblichen Einfluſs auf die wirtschaftlichen und sozialen Ver-
hältnisse gewann 29. Ihren Ausgangspunkt bildet eine Umgestaltung
des altrömischen Prekariums, die einer Auflösung seines juristischen
Begriffes gleichkam. Das Prekarium des reinen römischen Rechtes
war eine Leihe auf Herrengunst, gewährte dem Beliehenen, dem
Prekaristen weder ein dingliches noch ein obligatorisches Recht und
konnte vom Herrn jederzeit widerrufen werden. Schon das dritte
Jahrhundert kannte die Sitte, daſs der Prekarist schriftlich, „per
epistolam“ um Überlassung des Landes zu bitten pflegte 30. Ein solches
vom Beliehenen ausgestelltes Schriftstück ist das Kennzeichen der
jüngeren Prekarie, welche uns zu Beginn des sechsten Jahrhunderts
für Burgund sicher bezeugt ist. Doch nahm die epistola den Charakter
einer Urkunde an, sie enthält nicht mehr die schriftliche Bitte des
Prekaristen um Verleihung des Gutes, sondern eine Erklärung des
Beliehenen, durch die er bekennt, daſs ihm das Gut auf seine Bitte
unter gewissen Bedingungen verliehen worden sei. Die Urkunde

26 Brunner, Die Erbpacht der Formelsammlungen von Angers und Tours
und die spätrömische Verpachtung der Gemeindegüter, Z2 f. RG V 69. Esmein,
Mélanges d’histoire du droit, 1886, S 393 ff.
27 Form. Andeg. 30.
28 Pertile, Storia del diritto italiano IV 286.
29 Loening, Kirchenrecht S 703 ff.
30 Denn Paulus fühlte sich Sententiae V 6, 9 (hg. von Krüger) veranlaſst zu
sagen: precario possidere videtur non tantum, qui per epistulam vel qualibet alia
ratione hoc sibi concedi postulavit.
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[200/0218] § 25. Die wirtschaftlichen Zustände hatte. Die Erbpachtverhältnisse, wie sie sich seit dem Ausgange des vierten Jahrhunderts an jenen Gütern gebildet hatten, blieben trotz des Besitzwechsels bestehen und lassen sich in den Gebieten von Angers und Tours bis in das siebente und achte Jahrhundert ver- folgen. Der Erbpächter zahlte einen Zins und konnte das Erbpacht- gut (terra conducta) beliebig veräuſsern 26. Vereinzelt findet sich in fränkischer Zeit noch die römische Teilpacht, colonia partiaria 27, bei welcher ein Teil der Früchte als Pachtzins bezahlt wurde, doch hat sie in Gallien kaum die Rolle gespielt wie in Italien, wo sie inner- halb der sogenannten libellarischen Pachtverhältnisse fortlebte 28. Die Emphyteuse, eine Erbpacht, welche im Orient bei dem zur Anpflanzung verpachteten Ödlande entstanden war, ist zu römischer Zeit in Gallien, wie im Occident überhaupt, nicht üblich geworden. In die vorfränkische Periode Galliens reichen die Anfänge einer vielgestaltigen, hauptsächlich durch die Kirche entwickelten Leiheform, der sogenannten precaria zurück, welche freilich erst im fränkischen Reiche erheblichen Einfluſs auf die wirtschaftlichen und sozialen Ver- hältnisse gewann 29. Ihren Ausgangspunkt bildet eine Umgestaltung des altrömischen Prekariums, die einer Auflösung seines juristischen Begriffes gleichkam. Das Prekarium des reinen römischen Rechtes war eine Leihe auf Herrengunst, gewährte dem Beliehenen, dem Prekaristen weder ein dingliches noch ein obligatorisches Recht und konnte vom Herrn jederzeit widerrufen werden. Schon das dritte Jahrhundert kannte die Sitte, daſs der Prekarist schriftlich, „per epistolam“ um Überlassung des Landes zu bitten pflegte 30. Ein solches vom Beliehenen ausgestelltes Schriftstück ist das Kennzeichen der jüngeren Prekarie, welche uns zu Beginn des sechsten Jahrhunderts für Burgund sicher bezeugt ist. Doch nahm die epistola den Charakter einer Urkunde an, sie enthält nicht mehr die schriftliche Bitte des Prekaristen um Verleihung des Gutes, sondern eine Erklärung des Beliehenen, durch die er bekennt, daſs ihm das Gut auf seine Bitte unter gewissen Bedingungen verliehen worden sei. Die Urkunde 26 Brunner, Die Erbpacht der Formelsammlungen von Angers und Tours und die spätrömische Verpachtung der Gemeindegüter, Z2 f. RG V 69. Esmein, Mélanges d’histoire du droit, 1886, S 393 ff. 27 Form. Andeg. 30. 28 Pertile, Storia del diritto italiano IV 286. 29 Loening, Kirchenrecht S 703 ff. 30 Denn Paulus fühlte sich Sententiae V 6, 9 (hg. von Krüger) veranlaſst zu sagen: precario possidere videtur non tantum, qui per epistulam vel qualibet alia ratione hoc sibi concedi postulavit.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/218>, abgerufen am 09.05.2024.