Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 13. Die Sippe. verletzungen rächt, das angegriffene Mitglied verteidigt. Noch langeüber die germanische Zeit hinaus ist die Sippe im Falle der Tötung eines Geschlechtsgenossen berechtigt und verpflichtet, Vergeltung zu suchen, indem sie entweder zur Fehde schreitet und Blutrache übt oder den Abschluss eines Sühnevertrags erzwingt21. Wählt sie den Weg der Fehde, so ist derselben nicht bloss der Totschläger, sondern dessen ganze Sippe ausgesetzt und entspinnt sich ein Krieg zwischen den Magen des Erschlagenen (der toten Hand) und der Sippe des Totschlägers (der lebenden Hand). Der einzelne ist, so lange er Mitglied der Sippe bleibt, nicht befugt, sich der Fehde einseitig zu entziehen, etwa mit dem feindlichen Geschlechte seinen Sonderfrieden zu schliessen. Verschmäht sie die Fehde, so kann die Sippe der toten Hand den Abschluss eines Sühnvertrags von der Zahlung des Wer- geldes abhängig machen. Das Wergeld22, Manngeld, Mannbusse, bei Franken, Friesen und Thüringern auch leudis, bei den Angelsachsen leod, leodgeld, were23 genannt, hat den Charakter des Sühngeldes. Es wird nicht den nächsten Verwandten als den Erben der toten Hand, son- dern der Sippe als solcher gezahlt24. Denn nicht der engere Kreis der Erben, sondern der Verband der Sippe entscheidet, ob er Rache üben oder sich die Rache abkaufen lassen wolle25. Darum haben auch nur die Männer und zwar sowohl von der Schwertseite als von der Spindelseite Anteil am Wergelde, während das ältere Recht die Weiber davon ausschliesst, weil sie nicht Fehde erheben können, oder genauer gesagt, bei dem massgebenden Beschlusse der Sippe keine Stimme haben26. 21 Den Tod des Gesippen ungerächt und ungesühnt zu verschmerzen gilt für äusserste Schande. In der isländischen Njalssaga wählt Njal den Tod, weil er nicht imstande sei, seine erschlagenen Kinder zu rächen. 22 Von wer, der Mann, vir. 23 Wira, der altrussische Ausdruck für Wergeld (Ewers, Das älteste Recht der Russen, 1826, S 213. 219. 316), ist nordgermanischer Herkunft und entspricht dem angelsächsischen wer, were. 24 Tacitus, Germ. c. 21: recipitque satisfactionem universa domus. 25 Die oben S 83 Anm 9 angeführte Stelle entscheidet die Frage, ob das Wergeld den vier Klüften oder den Erben gebühre, dahin: Devile de ver klufte macht und mate hebben dem deder dat levent to gevende, so hebben se oc macht dat sulvige to vorterende oder wor se dat laten willen. Wergeld und Erbschaft werden in jüngeren niederfränkischen Quellen streng unterschieden, und ausdrück- lich wird den Gläubigern des Toten das Recht abgesprochen in ähnlicher Weise an das Wergeld zu greifen, wie sie an die Erbschaft greifen können, weil das Wer- geld nicht Erbe sei. Z2 f. RG III 3. 26 Liutprand c. 13 schliesst die Töchter aus, quia filiae ... eo quod femineo
sexu esse prouantur, non possunt faidam ipsam levare. Jüngere Quellen unter- scheiden zwischen der eigentlichen Geschlechtsbusse und der sog. Erbsühne und § 13. Die Sippe. verletzungen rächt, das angegriffene Mitglied verteidigt. Noch langeüber die germanische Zeit hinaus ist die Sippe im Falle der Tötung eines Geschlechtsgenossen berechtigt und verpflichtet, Vergeltung zu suchen, indem sie entweder zur Fehde schreitet und Blutrache übt oder den Abschluſs eines Sühnevertrags erzwingt21. Wählt sie den Weg der Fehde, so ist derselben nicht bloſs der Totschläger, sondern dessen ganze Sippe ausgesetzt und entspinnt sich ein Krieg zwischen den Magen des Erschlagenen (der toten Hand) und der Sippe des Totschlägers (der lebenden Hand). Der einzelne ist, so lange er Mitglied der Sippe bleibt, nicht befugt, sich der Fehde einseitig zu entziehen, etwa mit dem feindlichen Geschlechte seinen Sonderfrieden zu schlieſsen. Verschmäht sie die Fehde, so kann die Sippe der toten Hand den Abschluſs eines Sühnvertrags von der Zahlung des Wer- geldes abhängig machen. Das Wergeld22, Manngeld, Mannbuſse, bei Franken, Friesen und Thüringern auch leudis, bei den Angelsachsen leód, leódgeld, were23 genannt, hat den Charakter des Sühngeldes. Es wird nicht den nächsten Verwandten als den Erben der toten Hand, son- dern der Sippe als solcher gezahlt24. Denn nicht der engere Kreis der Erben, sondern der Verband der Sippe entscheidet, ob er Rache üben oder sich die Rache abkaufen lassen wolle25. Darum haben auch nur die Männer und zwar sowohl von der Schwertseite als von der Spindelseite Anteil am Wergelde, während das ältere Recht die Weiber davon ausschlieſst, weil sie nicht Fehde erheben können, oder genauer gesagt, bei dem maſsgebenden Beschlusse der Sippe keine Stimme haben26. 21 Den Tod des Gesippen ungerächt und ungesühnt zu verschmerzen gilt für äuſserste Schande. In der isländischen Njálssaga wählt Njál den Tod, weil er nicht imstande sei, seine erschlagenen Kinder zu rächen. 22 Von wër, der Mann, vir. 23 Wira, der altrussische Ausdruck für Wergeld (Ewers, Das älteste Recht der Russen, 1826, S 213. 219. 316), ist nordgermanischer Herkunft und entspricht dem angelsächsischen wer, were. 24 Tacitus, Germ. c. 21: recipitque satisfactionem universa domus. 25 Die oben S 83 Anm 9 angeführte Stelle entscheidet die Frage, ob das Wergeld den vier Klüften oder den Erben gebühre, dahin: Devile de ver klufte macht und mate hebben dem deder dat levent to gevende, so hebben se oc macht dat sulvige to vorterende oder wor se dat laten willen. Wergeld und Erbschaft werden in jüngeren niederfränkischen Quellen streng unterschieden, und ausdrück- lich wird den Gläubigern des Toten das Recht abgesprochen in ähnlicher Weise an das Wergeld zu greifen, wie sie an die Erbschaft greifen können, weil das Wer- geld nicht Erbe sei. Z2 f. RG III 3. 26 Liutprand c. 13 schlieſst die Töchter aus, quia filiae … eo quod femineo
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§ 13. Die Sippe.
verletzungen rächt, das angegriffene Mitglied verteidigt. Noch lange
über die germanische Zeit hinaus ist die Sippe im Falle der Tötung
eines Geschlechtsgenossen berechtigt und verpflichtet, Vergeltung zu
suchen, indem sie entweder zur Fehde schreitet und Blutrache übt
oder den Abschluſs eines Sühnevertrags erzwingt 21. Wählt sie den
Weg der Fehde, so ist derselben nicht bloſs der Totschläger, sondern
dessen ganze Sippe ausgesetzt und entspinnt sich ein Krieg zwischen
den Magen des Erschlagenen (der toten Hand) und der Sippe des
Totschlägers (der lebenden Hand). Der einzelne ist, so lange er
Mitglied der Sippe bleibt, nicht befugt, sich der Fehde einseitig zu
entziehen, etwa mit dem feindlichen Geschlechte seinen Sonderfrieden
zu schlieſsen. Verschmäht sie die Fehde, so kann die Sippe der toten
Hand den Abschluſs eines Sühnvertrags von der Zahlung des Wer-
geldes abhängig machen. Das Wergeld 22, Manngeld, Mannbuſse, bei
Franken, Friesen und Thüringern auch leudis, bei den Angelsachsen leód,
leódgeld, were 23 genannt, hat den Charakter des Sühngeldes. Es wird
nicht den nächsten Verwandten als den Erben der toten Hand, son-
dern der Sippe als solcher gezahlt 24. Denn nicht der engere Kreis
der Erben, sondern der Verband der Sippe entscheidet, ob er Rache
üben oder sich die Rache abkaufen lassen wolle 25. Darum haben
auch nur die Männer und zwar sowohl von der Schwertseite als von
der Spindelseite Anteil am Wergelde, während das ältere Recht die
Weiber davon ausschlieſst, weil sie nicht Fehde erheben können,
oder genauer gesagt, bei dem maſsgebenden Beschlusse der Sippe
keine Stimme haben 26.
21 Den Tod des Gesippen ungerächt und ungesühnt zu verschmerzen gilt
für äuſserste Schande. In der isländischen Njálssaga wählt Njál den Tod, weil er
nicht imstande sei, seine erschlagenen Kinder zu rächen.
22 Von wër, der Mann, vir.
23 Wira, der altrussische Ausdruck für Wergeld (Ewers, Das älteste Recht der
Russen, 1826, S 213. 219. 316), ist nordgermanischer Herkunft und entspricht dem
angelsächsischen wer, were.
24 Tacitus, Germ. c. 21: recipitque satisfactionem universa domus.
25 Die oben S 83 Anm 9 angeführte Stelle entscheidet die Frage, ob das
Wergeld den vier Klüften oder den Erben gebühre, dahin: Devile de ver klufte
macht und mate hebben dem deder dat levent to gevende, so hebben se oc macht
dat sulvige to vorterende oder wor se dat laten willen. Wergeld und Erbschaft
werden in jüngeren niederfränkischen Quellen streng unterschieden, und ausdrück-
lich wird den Gläubigern des Toten das Recht abgesprochen in ähnlicher Weise
an das Wergeld zu greifen, wie sie an die Erbschaft greifen können, weil das Wer-
geld nicht Erbe sei. Z2 f. RG III 3.
26 Liutprand c. 13 schlieſst die Töchter aus, quia filiae … eo quod femineo
sexu esse prouantur, non possunt faidam ipsam levare. Jüngere Quellen unter-
scheiden zwischen der eigentlichen Geschlechtsbuſse und der sog. Erbsühne und
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