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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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Die Gegenstände seiner Darstellung schöpfte Polygnot,
wie auch Pausanias mehrfach andeutet, aus der epischen
Dichtung der Hellenen. Dieser Satz ist jedoch keinesweges
so zu verstehen, dass eines seiner Gemälde nur gewisser-
massen eine bildliche Erläuterung zu einem bestimmten epi-
schen Gedichte gebildet habe; sondern er nahm nur den Stoff
daher, verarbeitete ihn aber in durchaus selbstständiger Weise.
Diese Weise selbst können wir jedoch nicht umhin wiederum
als eine epische zu bezeichnen. Dem wahren Epos fehlt ge-
wiss die poetische Einheit so wenig, wie dem Drama; aber
während in diesem die ganze Entwickelung sich streng um
eine einzelne Handlung bewegt, ergiebt sich dort die Einheit
erst aus einer Reihe von Begebenheiten, deren manche neben
ihrer mehr allgemeinen Beziehung auf die einheitliche Grund-
idee auch eine gewisse Selbständigkeit für sich bewahren.
Die Kunst der Anlage wird sich aber besonders darin zeigen,
dass diese Episoden stets für das Ganze bedeutsam ausge-
wählt sein müssen. So ist es in den Gemälden des Polygnot,
und nur darin unterscheidet sich der Maler vom Dichter, dass
er, weil sich sein ganzes Werk nicht in einer Zeitfolge, son-
dern gleichzeitig dem Sinne des Beschauers darstellt, nun
auch die Einheit der Zeit in demselben festgehalten hat. Mit
besonderer Klarheit ist dies von Welcker für das Bild von
Ilions Zerstörung nachgewiesen worden, indem er als das
Grundthema die Zerstörung im Momente ihrer Vollendung
hinstellt. "Zu gleicher Zeit schwört Aias, bricht Epeios den
Rest der Mauer ab, mordet Neoptolemos und bricht Nestor
auf, stehen die Troerinnen Todesangst aus und jammern als
Gefangene, schlafen die Ilier den Todesschlaf und werden be-
graben und wird Helena bewundert und um Freilassung der
Aethra gebeten, rüsten die Schiffsleute und Knechte des Me-
nelaos und Familie und Gesinde des Antenor den Abzug."
(S. 27). Diese Reihe einzelner Scenen ordnet sich aber der
ursprünglichen Raumeintheilung entsprechend auf das Ueber-
sichtlichste und Klarste. Wir erblicken im Centrum den letz-
ten gemeinsamen Act der Achäer, zu beiden Seiten den Zu-
stand, welcher im Lager und welcher in der Stadt durch die
Entscheidung des Krieges eingetreten ist, endlich an beiden
Enden den Abzug, hier freudig, dort trauervoll. Von der
Mitte aus nimmt das Ergreifende und Gewaltige der Gegen-

Die Gegenstände seiner Darstellung schöpfte Polygnot,
wie auch Pausanias mehrfach andeutet, aus der epischen
Dichtung der Hellenen. Dieser Satz ist jedoch keinesweges
so zu verstehen, dass eines seiner Gemälde nur gewisser-
massen eine bildliche Erläuterung zu einem bestimmten epi-
schen Gedichte gebildet habe; sondern er nahm nur den Stoff
daher, verarbeitete ihn aber in durchaus selbstständiger Weise.
Diese Weise selbst können wir jedoch nicht umhin wiederum
als eine epische zu bezeichnen. Dem wahren Epos fehlt ge-
wiss die poetische Einheit so wenig, wie dem Drama; aber
während in diesem die ganze Entwickelung sich streng um
eine einzelne Handlung bewegt, ergiebt sich dort die Einheit
erst aus einer Reihe von Begebenheiten, deren manche neben
ihrer mehr allgemeinen Beziehung auf die einheitliche Grund-
idee auch eine gewisse Selbständigkeit für sich bewahren.
Die Kunst der Anlage wird sich aber besonders darin zeigen,
dass diese Episoden stets für das Ganze bedeutsam ausge-
wählt sein müssen. So ist es in den Gemälden des Polygnot,
und nur darin unterscheidet sich der Maler vom Dichter, dass
er, weil sich sein ganzes Werk nicht in einer Zeitfolge, son-
dern gleichzeitig dem Sinne des Beschauers darstellt, nun
auch die Einheit der Zeit in demselben festgehalten hat. Mit
besonderer Klarheit ist dies von Welcker für das Bild von
Ilions Zerstörung nachgewiesen worden, indem er als das
Grundthema die Zerstörung im Momente ihrer Vollendung
hinstellt. „Zu gleicher Zeit schwört Aias, bricht Epeios den
Rest der Mauer ab, mordet Neoptolemos und bricht Nestor
auf, stehen die Troerinnen Todesangst aus und jammern als
Gefangene, schlafen die Ilier den Todesschlaf und werden be-
graben und wird Helena bewundert und um Freilassung der
Aethra gebeten, rüsten die Schiffsleute und Knechte des Me-
nelaos und Familie und Gesinde des Antenor den Abzug.“
(S. 27). Diese Reihe einzelner Scenen ordnet sich aber der
ursprünglichen Raumeintheilung entsprechend auf das Ueber-
sichtlichste und Klarste. Wir erblicken im Centrum den letz-
ten gemeinsamen Act der Achäer, zu beiden Seiten den Zu-
stand, welcher im Lager und welcher in der Stadt durch die
Entscheidung des Krieges eingetreten ist, endlich an beiden
Enden den Abzug, hier freudig, dort trauervoll. Von der
Mitte aus nimmt das Ergreifende und Gewaltige der Gegen-

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[37/0045] Die Gegenstände seiner Darstellung schöpfte Polygnot, wie auch Pausanias mehrfach andeutet, aus der epischen Dichtung der Hellenen. Dieser Satz ist jedoch keinesweges so zu verstehen, dass eines seiner Gemälde nur gewisser- massen eine bildliche Erläuterung zu einem bestimmten epi- schen Gedichte gebildet habe; sondern er nahm nur den Stoff daher, verarbeitete ihn aber in durchaus selbstständiger Weise. Diese Weise selbst können wir jedoch nicht umhin wiederum als eine epische zu bezeichnen. Dem wahren Epos fehlt ge- wiss die poetische Einheit so wenig, wie dem Drama; aber während in diesem die ganze Entwickelung sich streng um eine einzelne Handlung bewegt, ergiebt sich dort die Einheit erst aus einer Reihe von Begebenheiten, deren manche neben ihrer mehr allgemeinen Beziehung auf die einheitliche Grund- idee auch eine gewisse Selbständigkeit für sich bewahren. Die Kunst der Anlage wird sich aber besonders darin zeigen, dass diese Episoden stets für das Ganze bedeutsam ausge- wählt sein müssen. So ist es in den Gemälden des Polygnot, und nur darin unterscheidet sich der Maler vom Dichter, dass er, weil sich sein ganzes Werk nicht in einer Zeitfolge, son- dern gleichzeitig dem Sinne des Beschauers darstellt, nun auch die Einheit der Zeit in demselben festgehalten hat. Mit besonderer Klarheit ist dies von Welcker für das Bild von Ilions Zerstörung nachgewiesen worden, indem er als das Grundthema die Zerstörung im Momente ihrer Vollendung hinstellt. „Zu gleicher Zeit schwört Aias, bricht Epeios den Rest der Mauer ab, mordet Neoptolemos und bricht Nestor auf, stehen die Troerinnen Todesangst aus und jammern als Gefangene, schlafen die Ilier den Todesschlaf und werden be- graben und wird Helena bewundert und um Freilassung der Aethra gebeten, rüsten die Schiffsleute und Knechte des Me- nelaos und Familie und Gesinde des Antenor den Abzug.“ (S. 27). Diese Reihe einzelner Scenen ordnet sich aber der ursprünglichen Raumeintheilung entsprechend auf das Ueber- sichtlichste und Klarste. Wir erblicken im Centrum den letz- ten gemeinsamen Act der Achäer, zu beiden Seiten den Zu- stand, welcher im Lager und welcher in der Stadt durch die Entscheidung des Krieges eingetreten ist, endlich an beiden Enden den Abzug, hier freudig, dort trauervoll. Von der Mitte aus nimmt das Ergreifende und Gewaltige der Gegen-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/45>, abgerufen am 19.04.2024.