erkennen wir allerdings eine ungewöhnliche Energie, eine fast übermenschliche Kraft. Aber sie erscheint uns als zu diesem Grade gesteigert durch die Gewalt des Zorns, der Leidenschaft, also ohne jenen geistigen Schwerpunkt, wel- cher jede Aeusserung selbst der ausserordentlichsten That- kraft in ihrem Gleichgewicht zu erhalten vermag. Ich fühle sehr wohl, in wie vielen Beziehungen ein solcher Vergleich gerade zwischen Michelangelo und Werken antiker Kunst un- passsend erscheinen mag. Dennoch werden wir nicht leug- nen können, dass in den Perioden der letzteren, in welchen ein pathetisches Element und der Ausdruck verschiedener Affecte vorzuwalten begann, manche Erscheinung wenigstens in ihren ersten Keimen sich zeigt, welche eine Vergleichung mit dem gewaltigsten Künstler der Neuzeit wohl zulässt. Kehren wir nun wieder zu den beiden Bildern des Theseus von Euphranor und von Parrhasios zurück, so wird uns der mit Rosen genährte Held des letzteren an den jugendlichen Heros erinnern, welcher in Athen wegen seiner fast mäd- chenhaften Erscheinung sogar der Verspottung nicht zu ent- gehen vermochte. Wie aber dieser im Stande war, den Spott durch seine Thaten zu widerlegen, so wird auch sein Bild in Form und Ausdruck denjenigen Adel gezeigt haben, an welchem wir den wahren Helden am sichersten zu er- kennen vermögen.
Die Eigenschaft dagegen, welche Euphranor seinem The- seus beilegt, schliesst keineswegs eine Hinweisung auf einen ähnlichen ideellen Gehalt ein, sondern deutet auf die mate- rielle Kraft, welche sich schon in der äussern Erscheinung aussprach. Nehmen wir also den sinnlichen Eindruck, wel- chen das Auge erhält, zum Maassstab unseres Urtheils, so musste allerdings der mit Fleisch genährte Theseus des Eu- phranor gewaltiger und imposanter erscheinen, als der seines Vorgängers Parrhasios; und hierauf werden wir daher die "Würde der Heroen," dignitatis heroum, welche sich nach Plinius zuerst in den Werken des Euphranor ausgedrückt fand, beziehen müssen. Wir pflegen freilich dignitas in der Regel als ein würdevolles, gemessenes Auftreten, als einem dem decor verwandten Begriff aufzufassen. 1) Wenn aber
1) vgl. z. B. Cie. de off. 1, 36.
erkennen wir allerdings eine ungewöhnliche Energie, eine fast übermenschliche Kraft. Aber sie erscheint uns als zu diesem Grade gesteigert durch die Gewalt des Zorns, der Leidenschaft, also ohne jenen geistigen Schwerpunkt, wel- cher jede Aeusserung selbst der ausserordentlichsten That- kraft in ihrem Gleichgewicht zu erhalten vermag. Ich fühle sehr wohl, in wie vielen Beziehungen ein solcher Vergleich gerade zwischen Michelangelo und Werken antiker Kunst un- passsend erscheinen mag. Dennoch werden wir nicht leug- nen können, dass in den Perioden der letzteren, in welchen ein pathetisches Element und der Ausdruck verschiedener Affecte vorzuwalten begann, manche Erscheinung wenigstens in ihren ersten Keimen sich zeigt, welche eine Vergleichung mit dem gewaltigsten Künstler der Neuzeit wohl zulässt. Kehren wir nun wieder zu den beiden Bildern des Theseus von Euphranor und von Parrhasios zurück, so wird uns der mit Rosen genährte Held des letzteren an den jugendlichen Heros erinnern, welcher in Athen wegen seiner fast mäd- chenhaften Erscheinung sogar der Verspottung nicht zu ent- gehen vermochte. Wie aber dieser im Stande war, den Spott durch seine Thaten zu widerlegen, so wird auch sein Bild in Form und Ausdruck denjenigen Adel gezeigt haben, an welchem wir den wahren Helden am sichersten zu er- kennen vermögen.
Die Eigenschaft dagegen, welche Euphranor seinem The- seus beilegt, schliesst keineswegs eine Hinweisung auf einen ähnlichen ideellen Gehalt ein, sondern deutet auf die mate- rielle Kraft, welche sich schon in der äussern Erscheinung aussprach. Nehmen wir also den sinnlichen Eindruck, wel- chen das Auge erhält, zum Maassstab unseres Urtheils, so musste allerdings der mit Fleisch genährte Theseus des Eu- phranor gewaltiger und imposanter erscheinen, als der seines Vorgängers Parrhasios; und hierauf werden wir daher die „Würde der Heroen,“ dignitatis heroum, welche sich nach Plinius zuerst in den Werken des Euphranor ausgedrückt fand, beziehen müssen. Wir pflegen freilich dignitas in der Regel als ein würdevolles, gemessenes Auftreten, als einem dem decor verwandten Begriff aufzufassen. 1) Wenn aber
1) vgl. z. B. Cie. de off. 1, 36.
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erkennen wir allerdings eine ungewöhnliche Energie, eine
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Leidenschaft, also ohne jenen geistigen Schwerpunkt, wel-
cher jede Aeusserung selbst der ausserordentlichsten That-
kraft in ihrem Gleichgewicht zu erhalten vermag. Ich fühle
sehr wohl, in wie vielen Beziehungen ein solcher Vergleich
gerade zwischen Michelangelo und Werken antiker Kunst un-
passsend erscheinen mag. Dennoch werden wir nicht leug-
nen können, dass in den Perioden der letzteren, in welchen
ein pathetisches Element und der Ausdruck verschiedener
Affecte vorzuwalten begann, manche Erscheinung wenigstens
in ihren ersten Keimen sich zeigt, welche eine Vergleichung
mit dem gewaltigsten Künstler der Neuzeit wohl zulässt.
Kehren wir nun wieder zu den beiden Bildern des Theseus von
Euphranor und von Parrhasios zurück, so wird uns der mit
Rosen genährte Held des letzteren an den jugendlichen
Heros erinnern, welcher in Athen wegen seiner fast mäd-
chenhaften Erscheinung sogar der Verspottung nicht zu ent-
gehen vermochte. Wie aber dieser im Stande war, den
Spott durch seine Thaten zu widerlegen, so wird auch sein
Bild in Form und Ausdruck denjenigen Adel gezeigt haben,
an welchem wir den wahren Helden am sichersten zu er-
kennen vermögen.
Die Eigenschaft dagegen, welche Euphranor seinem The-
seus beilegt, schliesst keineswegs eine Hinweisung auf einen
ähnlichen ideellen Gehalt ein, sondern deutet auf die mate-
rielle Kraft, welche sich schon in der äussern Erscheinung
aussprach. Nehmen wir also den sinnlichen Eindruck, wel-
chen das Auge erhält, zum Maassstab unseres Urtheils, so
musste allerdings der mit Fleisch genährte Theseus des Eu-
phranor gewaltiger und imposanter erscheinen, als der seines
Vorgängers Parrhasios; und hierauf werden wir daher die
„Würde der Heroen,“ dignitatis heroum, welche sich nach
Plinius zuerst in den Werken des Euphranor ausgedrückt
fand, beziehen müssen. Wir pflegen freilich dignitas in der
Regel als ein würdevolles, gemessenes Auftreten, als einem
dem decor verwandten Begriff aufzufassen. 1) Wenn aber
1) vgl. z. B. Cie. de off. 1, 36.
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/197>, abgerufen am 24.11.2024.
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