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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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schaft beruhende Bedeutung richtig zu würdigen, werden
wir uns die verschiedenen Kräfte des Geistes vergegen-
wärtigen müssen, welche beim Schaffen und Vollenden eines
Kunstwerks thätig sind. Ich thue dies mit den Worten Ru-
mohrs: 1) "Durch zween, wohl in einander greifende, doch
unterscheidbare und unterscheidenswerthe Beziehungen seiner
Geistesfähigkeit gelangt der Künstler in den Besitz einer so
klaren, so durchgebildeten und reichen Anschauung der Na-
turformen, als er jedesmal bedarf, um diejenigen Kunstauf-
gaben, welche theils aus seiner inneren Bestimmung, theils
aus seiner äussern Stellung hervorgehen, deutlich und ge-
muthend darzustellen. Die erste besteht in gründlicher Er-
forschung der Gesetze, eines Theils der Gestalten, andern
Theils der Erscheinung solcher Formen der Natur, welche
aus inneren Gründen und durch äussere Veranlassungen dem
Künstler näher liegen, als andere. Die Forschungen dieser
Art zerfallen in anatomische und optisch-perspectivische. --
Die zweite besteht in Beobachtung gemuthender und bedeut-
samer Züge, Lagen und Bewegungen der Gestalt; und diese
erheischt, um fruchtbar und ergiebig zu sein, nicht so sehr
sonst empfehlenswerthe Ausdauer und Gründlichkeit des
Fleisses, als vornehmlich die leidenschaftlichste Hingebung
in den sinnlich-geistigen Genuss des Schauens."

Es ist nun klar, dass bei einem Ueberwiegen der letztern
Richtung das Verhältniss des Künstlers zu der ihm gegen-
überstehenden Natur und der Welt der Erscheinungen ein
durchaus unmittelbares sein wird. Er nimmt die von aussen
erhaltenen Eindrücke, so weit sie als für die Kunst tauglich
auf ihn einwirken, unmittelbar in sich auf, um sie eben so
unmittelbar wieder in das Kunstwerk zu übertragen. Hier
ist also alles bedingt durch die Lebendigkeit, Fülle, Klarheit
und Schärfe der Anschauung und Auffassung. Bei dem Vor-
wiegen einer mehr reflectirenden Thätigkeit muss zwar der
Künstler von derselben Grundlage, von einfacher Beobach-
tung der Erscheinungen in der Natur ausgehen. Allein er
prägt dieselben nicht als anschauliche Bilder seiner Phan-
tasie ein, sondern beobachtet sie mit dem Verstande, um die
allgemeinen Gesetze zu erkennen, auf welchen sie beruhen.

1) Ital. Forsch. I, 64 fg.

schaft beruhende Bedeutung richtig zu würdigen, werden
wir uns die verschiedenen Kräfte des Geistes vergegen-
wärtigen müssen, welche beim Schaffen und Vollenden eines
Kunstwerks thätig sind. Ich thue dies mit den Worten Ru-
mohrs: 1) „Durch zween, wohl in einander greifende, doch
unterscheidbare und unterscheidenswerthe Beziehungen seiner
Geistesfähigkeit gelangt der Künstler in den Besitz einer so
klaren, so durchgebildeten und reichen Anschauung der Na-
turformen, als er jedesmal bedarf, um diejenigen Kunstauf-
gaben, welche theils aus seiner inneren Bestimmung, theils
aus seiner äussern Stellung hervorgehen, deutlich und ge-
muthend darzustellen. Die erste besteht in gründlicher Er-
forschung der Gesetze, eines Theils der Gestalten, andern
Theils der Erscheinung solcher Formen der Natur, welche
aus inneren Gründen und durch äussere Veranlassungen dem
Künstler näher liegen, als andere. Die Forschungen dieser
Art zerfallen in anatomische und optisch-perspectivische. —
Die zweite besteht in Beobachtung gemuthender und bedeut-
samer Züge, Lagen und Bewegungen der Gestalt; und diese
erheischt, um fruchtbar und ergiebig zu sein, nicht so sehr
sonst empfehlenswerthe Ausdauer und Gründlichkeit des
Fleisses, als vornehmlich die leidenschaftlichste Hingebung
in den sinnlich-geistigen Genuss des Schauens.“

Es ist nun klar, dass bei einem Ueberwiegen der letztern
Richtung das Verhältniss des Künstlers zu der ihm gegen-
überstehenden Natur und der Welt der Erscheinungen ein
durchaus unmittelbares sein wird. Er nimmt die von aussen
erhaltenen Eindrücke, so weit sie als für die Kunst tauglich
auf ihn einwirken, unmittelbar in sich auf, um sie eben so
unmittelbar wieder in das Kunstwerk zu übertragen. Hier
ist also alles bedingt durch die Lebendigkeit, Fülle, Klarheit
und Schärfe der Anschauung und Auffassung. Bei dem Vor-
wiegen einer mehr reflectirenden Thätigkeit muss zwar der
Künstler von derselben Grundlage, von einfacher Beobach-
tung der Erscheinungen in der Natur ausgehen. Allein er
prägt dieselben nicht als anschauliche Bilder seiner Phan-
tasie ein, sondern beobachtet sie mit dem Verstande, um die
allgemeinen Gesetze zu erkennen, auf welchen sie beruhen.

1) Ital. Forsch. I, 64 fg.
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[136/0144] schaft beruhende Bedeutung richtig zu würdigen, werden wir uns die verschiedenen Kräfte des Geistes vergegen- wärtigen müssen, welche beim Schaffen und Vollenden eines Kunstwerks thätig sind. Ich thue dies mit den Worten Ru- mohrs: 1) „Durch zween, wohl in einander greifende, doch unterscheidbare und unterscheidenswerthe Beziehungen seiner Geistesfähigkeit gelangt der Künstler in den Besitz einer so klaren, so durchgebildeten und reichen Anschauung der Na- turformen, als er jedesmal bedarf, um diejenigen Kunstauf- gaben, welche theils aus seiner inneren Bestimmung, theils aus seiner äussern Stellung hervorgehen, deutlich und ge- muthend darzustellen. Die erste besteht in gründlicher Er- forschung der Gesetze, eines Theils der Gestalten, andern Theils der Erscheinung solcher Formen der Natur, welche aus inneren Gründen und durch äussere Veranlassungen dem Künstler näher liegen, als andere. Die Forschungen dieser Art zerfallen in anatomische und optisch-perspectivische. — Die zweite besteht in Beobachtung gemuthender und bedeut- samer Züge, Lagen und Bewegungen der Gestalt; und diese erheischt, um fruchtbar und ergiebig zu sein, nicht so sehr sonst empfehlenswerthe Ausdauer und Gründlichkeit des Fleisses, als vornehmlich die leidenschaftlichste Hingebung in den sinnlich-geistigen Genuss des Schauens.“ Es ist nun klar, dass bei einem Ueberwiegen der letztern Richtung das Verhältniss des Künstlers zu der ihm gegen- überstehenden Natur und der Welt der Erscheinungen ein durchaus unmittelbares sein wird. Er nimmt die von aussen erhaltenen Eindrücke, so weit sie als für die Kunst tauglich auf ihn einwirken, unmittelbar in sich auf, um sie eben so unmittelbar wieder in das Kunstwerk zu übertragen. Hier ist also alles bedingt durch die Lebendigkeit, Fülle, Klarheit und Schärfe der Anschauung und Auffassung. Bei dem Vor- wiegen einer mehr reflectirenden Thätigkeit muss zwar der Künstler von derselben Grundlage, von einfacher Beobach- tung der Erscheinungen in der Natur ausgehen. Allein er prägt dieselben nicht als anschauliche Bilder seiner Phan- tasie ein, sondern beobachtet sie mit dem Verstande, um die allgemeinen Gesetze zu erkennen, auf welchen sie beruhen. 1) Ital. Forsch. I, 64 fg.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/144>, abgerufen am 27.04.2024.