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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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die Geltung von etwas Bleibenden, die andere die von etwas
Vorübergehendem hat. Diese verschiedene Geltung wird
sich aber auch körperlich dadurch offenbaren, dass die ur-
sprüngliche Eigenschaft, das ursprüngliche Temperament in
denjenigen Bildungen des Körpers seinen Ausdruck findet,
welche theils von Natur eine festere Gestalt haben, wie der
ganze Knochenbau, theils eben durch die dauernden und
stets wiederkehrenden Einwirkungen jener Eigenschaft auch
in der ganzen Haltung und selbst in den weicheren, flei-
schigen Theilen in bestimmterer Weise sich ausprägen. Die
vorübergehenden Stimmungen oder Erregungen des Gemüthes
und Gefühls werden sich uns dagegen in eben so vorüber-
gehenden Bewegungen des Körpers oder Zügen des Antlitzes
offenbaren. Kehren wir jetzt wieder zum Demos zurück, so
wollen wir die von den Neuern versuchten Reproductionen
dieses Werkes keiner weiteren Prüfung unterwerfen. 1) Denn
da uns alle Haltpunkte hinsichtlich der äusseren Darstellung
fehlen, so könnte wohl ein bedeutender Künstler die gestellte
Aufgabe von neuem selbstständig und vortrefflich lösen;
aber trotzdem würde uns dafür, dass seine Lösung mit der
des Parrhasios übereinstimme, jedwede Gewähr fehlen. Da-
gegen dürfen wir nach dem Vorhergehenden behaupten,
dass die Aufgabe an sich die eingehendste Berücksichtigung
jener wandelbaren und veränderlichen Formen mit Nothwen-
digkeit voraussetzt; und da die verschiedenen Charakterzüge
doch nur in der Bildung der Augen, des Mundes, in der Be-
wegung der Hände u. s. w. zur Darstellung gebracht werden
konnten, so erkennen wir nunmehr, wie alle jene Feinheiten
der Form bei Parrhasios ihre Bedeutung erst dadurch er-
langten, dass sie die Träger eines nicht minder verfeinerten
Ausdruckes wurden.

Nehmen wir diesen Satz zunächst als bewiesen an, --
und für seine Richtigkeit werden sich später noch mannig-
fache Thatsachen anführen lassen, -- so bleibt uns doch die
noch wichtigere Frage zu beantworten, in welcher Weise
durch diese Richtung die gesammte Auffassung künstlerischer
Aufgaben bei Parrhasios bedingt wurde. Denn wenn wir
fanden, dass Polygnot trotz, ja in gewissem Sinne in Folge

1) vgl. über dieselben z. B. Pauly's Realencyclopädie unter Parrhasios.

die Geltung von etwas Bleibenden, die andere die von etwas
Vorübergehendem hat. Diese verschiedene Geltung wird
sich aber auch körperlich dadurch offenbaren, dass die ur-
sprüngliche Eigenschaft, das ursprüngliche Temperament in
denjenigen Bildungen des Körpers seinen Ausdruck findet,
welche theils von Natur eine festere Gestalt haben, wie der
ganze Knochenbau, theils eben durch die dauernden und
stets wiederkehrenden Einwirkungen jener Eigenschaft auch
in der ganzen Haltung und selbst in den weicheren, flei-
schigen Theilen in bestimmterer Weise sich ausprägen. Die
vorübergehenden Stimmungen oder Erregungen des Gemüthes
und Gefühls werden sich uns dagegen in eben so vorüber-
gehenden Bewegungen des Körpers oder Zügen des Antlitzes
offenbaren. Kehren wir jetzt wieder zum Demos zurück, so
wollen wir die von den Neuern versuchten Reproductionen
dieses Werkes keiner weiteren Prüfung unterwerfen. 1) Denn
da uns alle Haltpunkte hinsichtlich der äusseren Darstellung
fehlen, so könnte wohl ein bedeutender Künstler die gestellte
Aufgabe von neuem selbstständig und vortrefflich lösen;
aber trotzdem würde uns dafür, dass seine Lösung mit der
des Parrhasios übereinstimme, jedwede Gewähr fehlen. Da-
gegen dürfen wir nach dem Vorhergehenden behaupten,
dass die Aufgabe an sich die eingehendste Berücksichtigung
jener wandelbaren und veränderlichen Formen mit Nothwen-
digkeit voraussetzt; und da die verschiedenen Charakterzüge
doch nur in der Bildung der Augen, des Mundes, in der Be-
wegung der Hände u. s. w. zur Darstellung gebracht werden
konnten, so erkennen wir nunmehr, wie alle jene Feinheiten
der Form bei Parrhasios ihre Bedeutung erst dadurch er-
langten, dass sie die Träger eines nicht minder verfeinerten
Ausdruckes wurden.

Nehmen wir diesen Satz zunächst als bewiesen an, —
und für seine Richtigkeit werden sich später noch mannig-
fache Thatsachen anführen lassen, — so bleibt uns doch die
noch wichtigere Frage zu beantworten, in welcher Weise
durch diese Richtung die gesammte Auffassung künstlerischer
Aufgaben bei Parrhasios bedingt wurde. Denn wenn wir
fanden, dass Polygnot trotz, ja in gewissem Sinne in Folge

1) vgl. über dieselben z. B. Pauly’s Realencyclopädie unter Parrhasios.
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[110/0118] die Geltung von etwas Bleibenden, die andere die von etwas Vorübergehendem hat. Diese verschiedene Geltung wird sich aber auch körperlich dadurch offenbaren, dass die ur- sprüngliche Eigenschaft, das ursprüngliche Temperament in denjenigen Bildungen des Körpers seinen Ausdruck findet, welche theils von Natur eine festere Gestalt haben, wie der ganze Knochenbau, theils eben durch die dauernden und stets wiederkehrenden Einwirkungen jener Eigenschaft auch in der ganzen Haltung und selbst in den weicheren, flei- schigen Theilen in bestimmterer Weise sich ausprägen. Die vorübergehenden Stimmungen oder Erregungen des Gemüthes und Gefühls werden sich uns dagegen in eben so vorüber- gehenden Bewegungen des Körpers oder Zügen des Antlitzes offenbaren. Kehren wir jetzt wieder zum Demos zurück, so wollen wir die von den Neuern versuchten Reproductionen dieses Werkes keiner weiteren Prüfung unterwerfen. 1) Denn da uns alle Haltpunkte hinsichtlich der äusseren Darstellung fehlen, so könnte wohl ein bedeutender Künstler die gestellte Aufgabe von neuem selbstständig und vortrefflich lösen; aber trotzdem würde uns dafür, dass seine Lösung mit der des Parrhasios übereinstimme, jedwede Gewähr fehlen. Da- gegen dürfen wir nach dem Vorhergehenden behaupten, dass die Aufgabe an sich die eingehendste Berücksichtigung jener wandelbaren und veränderlichen Formen mit Nothwen- digkeit voraussetzt; und da die verschiedenen Charakterzüge doch nur in der Bildung der Augen, des Mundes, in der Be- wegung der Hände u. s. w. zur Darstellung gebracht werden konnten, so erkennen wir nunmehr, wie alle jene Feinheiten der Form bei Parrhasios ihre Bedeutung erst dadurch er- langten, dass sie die Träger eines nicht minder verfeinerten Ausdruckes wurden. Nehmen wir diesen Satz zunächst als bewiesen an, — und für seine Richtigkeit werden sich später noch mannig- fache Thatsachen anführen lassen, — so bleibt uns doch die noch wichtigere Frage zu beantworten, in welcher Weise durch diese Richtung die gesammte Auffassung künstlerischer Aufgaben bei Parrhasios bedingt wurde. Denn wenn wir fanden, dass Polygnot trotz, ja in gewissem Sinne in Folge 1) vgl. über dieselben z. B. Pauly’s Realencyclopädie unter Parrhasios.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/118>, abgerufen am 23.11.2024.