wird sich Niemand dem Eindrucke entziehen können, dass sie in ihrer ganzen Auffassung sich von allen Kunstwerken der früheren Epochen wesentlich unterscheiden. Selbst die Ver- anlassung, welche die Künstler zur Wahl solcher Darstellun- gen bestimmte, scheint von besonderer Art gewesen zu sein. Im religiösen Cultus konnte dieselbe schwerlich liegen. Die Niobiden, wie die Gallier, sofern wir an die delphische Nie- derlage denken, erscheinen geeignet, sei es zum Giebel- schmucke, sei es zum Weihgeschenke in einem Tempel des Apollo. In den Mythen des Laokoon, der Dirke und (um hier noch eines anderen Werkes der rhodischen Schule zu geden- ken) des Athamas, dessen Bild Aristonidas gemacht, ist es aber weniger eine einzelne Gottheit, welche das tragische Loos dieser Sterblichen bestimmt, als die unentfliehbare, rächende Nemesis. Eben so wenig aber konnte der Staat aus politischen Rücksichten an der Darstellung von Mythen ein Interesse ha- ben, welche zu der Sage und Geschichte von Rhodos durchaus in keiner Beziehung stehen. So möchte es scheinen, dass hier ein rein künstlerischer Drang, von allen fremden Rück- sichten unabhängig, allein bestimmend gewirkt habe. Aber wenn auch der Künstler durch seine Werke dem Kunstsinn seiner Zeitgenossen erst seine bestimmte Bahn anweisen soll, so steht er doch selbst wieder unter dem Einflusse seiner Zeit und der besonderen Verhältnisse seiner Umgebung, namentlich da, wo es sich um die Ausführung von Werken handelt, wel- che nicht ohne bedeutende Mittel hergestellt werden können. So möchte man gerade von den genannten Werken der rho- dischen Schule sagen, dass sie die Zeit und das Land, in welchem sie entstanden, nicht verleugnen können. Man ge- währt dem Künstler die reichlichsten Mittel, um allerdings un- abhängig von bestimmten Forderungen der Religion und der Politik sich seine Aufgabe zu wählen. Aber zur vollen Frei- heit gelangte er dadurch dennoch nicht. Denn an die Stelle der Götter oder des Staates, sei es in der Gesammtheit seiner Bürger, sei es in seiner Vertretung durch die Person eines Herrschers, traten die Menschen mit den Wünschen nach Be- friedigung ihrer besonderen geistigen Bedürfnisse, mit dem Be- gehren und den Forderungen ihrer Leidenschaften. Dass diese sich überall mit denjenigen der wahren, höheren Schönheit in Einklang befinden sollten, ist aber am wenigsten zu erwarten,
wird sich Niemand dem Eindrucke entziehen können, dass sie in ihrer ganzen Auffassung sich von allen Kunstwerken der früheren Epochen wesentlich unterscheiden. Selbst die Ver- anlassung, welche die Künstler zur Wahl solcher Darstellun- gen bestimmte, scheint von besonderer Art gewesen zu sein. Im religiösen Cultus konnte dieselbe schwerlich liegen. Die Niobiden, wie die Gallier, sofern wir an die delphische Nie- derlage denken, erscheinen geeignet, sei es zum Giebel- schmucke, sei es zum Weihgeschenke in einem Tempel des Apollo. In den Mythen des Laokoon, der Dirke und (um hier noch eines anderen Werkes der rhodischen Schule zu geden- ken) des Athamas, dessen Bild Aristonidas gemacht, ist es aber weniger eine einzelne Gottheit, welche das tragische Loos dieser Sterblichen bestimmt, als die unentfliehbare, rächende Nemesis. Eben so wenig aber konnte der Staat aus politischen Rücksichten an der Darstellung von Mythen ein Interesse ha- ben, welche zu der Sage und Geschichte von Rhodos durchaus in keiner Beziehung stehen. So möchte es scheinen, dass hier ein rein künstlerischer Drang, von allen fremden Rück- sichten unabhängig, allein bestimmend gewirkt habe. Aber wenn auch der Künstler durch seine Werke dem Kunstsinn seiner Zeitgenossen erst seine bestimmte Bahn anweisen soll, so steht er doch selbst wieder unter dem Einflusse seiner Zeit und der besonderen Verhältnisse seiner Umgebung, namentlich da, wo es sich um die Ausführung von Werken handelt, wel- che nicht ohne bedeutende Mittel hergestellt werden können. So möchte man gerade von den genannten Werken der rho- dischen Schule sagen, dass sie die Zeit und das Land, in welchem sie entstanden, nicht verleugnen können. Man ge- währt dem Künstler die reichlichsten Mittel, um allerdings un- abhängig von bestimmten Forderungen der Religion und der Politik sich seine Aufgabe zu wählen. Aber zur vollen Frei- heit gelangte er dadurch dennoch nicht. Denn an die Stelle der Götter oder des Staates, sei es in der Gesammtheit seiner Bürger, sei es in seiner Vertretung durch die Person eines Herrschers, traten die Menschen mit den Wünschen nach Be- friedigung ihrer besonderen geistigen Bedürfnisse, mit dem Be- gehren und den Forderungen ihrer Leidenschaften. Dass diese sich überall mit denjenigen der wahren, höheren Schönheit in Einklang befinden sollten, ist aber am wenigsten zu erwarten,
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wird sich Niemand dem Eindrucke entziehen können, dass sie
in ihrer ganzen Auffassung sich von allen Kunstwerken der
früheren Epochen wesentlich unterscheiden. Selbst die Ver-
anlassung, welche die Künstler zur Wahl solcher Darstellun-
gen bestimmte, scheint von besonderer Art gewesen zu sein.
Im religiösen Cultus konnte dieselbe schwerlich liegen. Die
Niobiden, wie die Gallier, sofern wir an die delphische Nie-
derlage denken, erscheinen geeignet, sei es zum Giebel-
schmucke, sei es zum Weihgeschenke in einem Tempel des
Apollo. In den Mythen des Laokoon, der Dirke und (um hier
noch eines anderen Werkes der rhodischen Schule zu geden-
ken) des Athamas, dessen Bild Aristonidas gemacht, ist es
aber weniger eine einzelne Gottheit, welche das tragische Loos
dieser Sterblichen bestimmt, als die unentfliehbare, rächende
Nemesis. Eben so wenig aber konnte der Staat aus politischen
Rücksichten an der Darstellung von Mythen ein Interesse ha-
ben, welche zu der Sage und Geschichte von Rhodos durchaus
in keiner Beziehung stehen. So möchte es scheinen, dass
hier ein rein künstlerischer Drang, von allen fremden Rück-
sichten unabhängig, allein bestimmend gewirkt habe. Aber
wenn auch der Künstler durch seine Werke dem Kunstsinn
seiner Zeitgenossen erst seine bestimmte Bahn anweisen soll,
so steht er doch selbst wieder unter dem Einflusse seiner Zeit
und der besonderen Verhältnisse seiner Umgebung, namentlich
da, wo es sich um die Ausführung von Werken handelt, wel-
che nicht ohne bedeutende Mittel hergestellt werden können.
So möchte man gerade von den genannten Werken der rho-
dischen Schule sagen, dass sie die Zeit und das Land, in
welchem sie entstanden, nicht verleugnen können. Man ge-
währt dem Künstler die reichlichsten Mittel, um allerdings un-
abhängig von bestimmten Forderungen der Religion und der
Politik sich seine Aufgabe zu wählen. Aber zur vollen Frei-
heit gelangte er dadurch dennoch nicht. Denn an die Stelle
der Götter oder des Staates, sei es in der Gesammtheit seiner
Bürger, sei es in seiner Vertretung durch die Person eines
Herrschers, traten die Menschen mit den Wünschen nach Be-
friedigung ihrer besonderen geistigen Bedürfnisse, mit dem Be-
gehren und den Forderungen ihrer Leidenschaften. Dass diese
sich überall mit denjenigen der wahren, höheren Schönheit in
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/522>, abgerufen am 24.11.2024.
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