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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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man öffne sie und schliesse sie sogleich wieder, so wird man
den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten,
indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe ver-
ändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht,
ist sie ein fixirter Blitz, eine Welle, versteinert im Augen-
blicke, da sie gegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung
entsteht, wenn man die Gruppe Nachts bei der Fackel sieht."
Die Schilderung ist richtig. Doch dürfen wir deshalb noch
nicht unbedingt in die Bewunderung über das einstimmen, was
geschildert wird? "Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir
es nach unseren Begriffen rechnen, dass sie plötzlich ausbre-
chen und plötzlich verschwinden, dass sie das, was sie sind,
nur einen Augenblick sein können; alle solche Erscheinun-
gen, sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten
durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches An-
sehen, dass mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck
schwächer wird und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande
ekelt oder graut." Diese Worte hat Lessing (Laok. Kap. III)
zwar nur in Hinsicht auf Arten des Ausdruckes geschrieben,
welche noch vorübergehender sind, als die des Laokoon, wie
Lachen, Schreien; und er hat sie geschrieben zur Vertheidi-
gung des Laokoon. Doch aber erleiden sie in einigermassen
ermässigter Weise ihre Anwendung auch auf seinen Ausdruck.
Ekeln und grauen zwar wird uns vor dem Laokoon nicht.
Aber schwächer wird gewiss der Eindruck bei längerem Be-
schauen, als wenn wir uns nach Göthe's Weise mit dem An-
blicke gewissermassen überraschen. Ich berufe mich dabei
z. B. auf das Urtheil Danneckers, welcher bekannte, dass er
den Laokoon nie lange habe beschauen können, dass, wenn er
ein anderes schönes Werk neben ihm gesehen, sich sein Auge
unwillkürlich von ihm weggewendet habe 1).

Ich habe hier absichtlich öfter die Urtheile Anderer ange-
führt; sie zeigen, wie die Ansichten schwanken und sich
zuweilen scheinbar und sogar wirklich widersprechen. Schon
das wird mich entschuldigen, wenn ich, anstatt in die man-
nigfaltigen Lobsprüche einzustimmen, zunächst versucht habe,
die einzelnen Erscheinungen, welche sich an dem Werke zei-
gen, in ihrer Wesenheit zu erkennen und in voller Schärfe

1) Amalth. III, S. 4.

man öffne sie und schliesse sie sogleich wieder, so wird man
den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten,
indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe ver-
ändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht,
ist sie ein fixirter Blitz, eine Welle, versteinert im Augen-
blicke, da sie gegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung
entsteht, wenn man die Gruppe Nachts bei der Fackel sieht.”
Die Schilderung ist richtig. Doch dürfen wir deshalb noch
nicht unbedingt in die Bewunderung über das einstimmen, was
geschildert wird? „Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir
es nach unseren Begriffen rechnen, dass sie plötzlich ausbre-
chen und plötzlich verschwinden, dass sie das, was sie sind,
nur einen Augenblick sein können; alle solche Erscheinun-
gen, sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten
durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches An-
sehen, dass mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck
schwächer wird und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande
ekelt oder graut.” Diese Worte hat Lessing (Laok. Kap. III)
zwar nur in Hinsicht auf Arten des Ausdruckes geschrieben,
welche noch vorübergehender sind, als die des Laokoon, wie
Lachen, Schreien; und er hat sie geschrieben zur Vertheidi-
gung des Laokoon. Doch aber erleiden sie in einigermassen
ermässigter Weise ihre Anwendung auch auf seinen Ausdruck.
Ekeln und grauen zwar wird uns vor dem Laokoon nicht.
Aber schwächer wird gewiss der Eindruck bei längerem Be-
schauen, als wenn wir uns nach Göthe’s Weise mit dem An-
blicke gewissermassen überraschen. Ich berufe mich dabei
z. B. auf das Urtheil Danneckers, welcher bekannte, dass er
den Laokoon nie lange habe beschauen können, dass, wenn er
ein anderes schönes Werk neben ihm gesehen, sich sein Auge
unwillkürlich von ihm weggewendet habe 1).

Ich habe hier absichtlich öfter die Urtheile Anderer ange-
führt; sie zeigen, wie die Ansichten schwanken und sich
zuweilen scheinbar und sogar wirklich widersprechen. Schon
das wird mich entschuldigen, wenn ich, anstatt in die man-
nigfaltigen Lobsprüche einzustimmen, zunächst versucht habe,
die einzelnen Erscheinungen, welche sich an dem Werke zei-
gen, in ihrer Wesenheit zu erkennen und in voller Schärfe

1) Amalth. III, S. 4.
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[491/0504] man öffne sie und schliesse sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe ver- ändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixirter Blitz, eine Welle, versteinert im Augen- blicke, da sie gegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung entsteht, wenn man die Gruppe Nachts bei der Fackel sieht.” Die Schilderung ist richtig. Doch dürfen wir deshalb noch nicht unbedingt in die Bewunderung über das einstimmen, was geschildert wird? „Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unseren Begriffen rechnen, dass sie plötzlich ausbre- chen und plötzlich verschwinden, dass sie das, was sie sind, nur einen Augenblick sein können; alle solche Erscheinun- gen, sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches An- sehen, dass mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande ekelt oder graut.” Diese Worte hat Lessing (Laok. Kap. III) zwar nur in Hinsicht auf Arten des Ausdruckes geschrieben, welche noch vorübergehender sind, als die des Laokoon, wie Lachen, Schreien; und er hat sie geschrieben zur Vertheidi- gung des Laokoon. Doch aber erleiden sie in einigermassen ermässigter Weise ihre Anwendung auch auf seinen Ausdruck. Ekeln und grauen zwar wird uns vor dem Laokoon nicht. Aber schwächer wird gewiss der Eindruck bei längerem Be- schauen, als wenn wir uns nach Göthe’s Weise mit dem An- blicke gewissermassen überraschen. Ich berufe mich dabei z. B. auf das Urtheil Danneckers, welcher bekannte, dass er den Laokoon nie lange habe beschauen können, dass, wenn er ein anderes schönes Werk neben ihm gesehen, sich sein Auge unwillkürlich von ihm weggewendet habe 1). Ich habe hier absichtlich öfter die Urtheile Anderer ange- führt; sie zeigen, wie die Ansichten schwanken und sich zuweilen scheinbar und sogar wirklich widersprechen. Schon das wird mich entschuldigen, wenn ich, anstatt in die man- nigfaltigen Lobsprüche einzustimmen, zunächst versucht habe, die einzelnen Erscheinungen, welche sich an dem Werke zei- gen, in ihrer Wesenheit zu erkennen und in voller Schärfe 1) Amalth. III, S. 4.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/504>, abgerufen am 15.05.2024.