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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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unterscheiden lasse. "Fern sei es von mir, dass ich die Ein-
heit der menschlichen Natur trennen, dass ich den geistigen
Kräften dieses herrlich gebildeten Mannes ihr Mitwirken ab-
leugnen, dass ich das Streben und Leiden einer grossen Natur
verkennen sollte. Angst, Furcht, Schrecken, väterliche Nei-
gung scheinen auch mir sich durch diese Adern zu bewegen,
in dieser Brust aufzusteigen, auf dieser Stirn sich zu furchen;
gern gesteh' ich, dass mit dem sinnlichen auch das geistige
Leiden auf der höchsten Stufe dargestellt sei, nur trage man
die Wirkung, die das Kunstwerk auf uns macht, nicht zu
lebhaft auf das Werk selbst über." So Göthe. Seine letzte
Warnung aber möchte ich namentlich in der Richtung beher-
zigt sehen, dass man nicht versuche, den Ausdruck zu zer-
gliedern oder, schärfer ausgedrückt, zu zerspalten, um etwa
in dem einen Zuge den physischen, in dem andern irgend
einen geistigen Schmerz bestimmter Art nachweisen zu wol-
len. Der körperliche Schmerz ist so gewaltig, dass er sich
über das Ganze bis in die kleinsten Theile verbreitet. Dass
er uns nicht einzig als ein solcher erscheint, liegt allein
darin, dass das Object, an welchem er sich äussert, zu jeder
edeln Empfindung befähigt ist, dass dieser geistige Adel als
die Basis aller Empfindungen überall noch durchschimmert.
Wer mehr als dieses zu erkennen glaubt, dem rathen wir,
einmal den Kopf, etwa im Gypsabguss, ganz von der Gruppe
getrennt zu betrachten und diese, so viel wie möglich, ganz
zu vergessen: er wird sicherlich darauf verzichten, das Ein-
zelne des Ausdrucks nach bestimmten Richtungen nachwei-
sen zu wollen; ja er wird kaum im Stande sein, die Wir-
kung, welche der Kopf beim Anblicke der ganzen Gruppe
hervorgebracht, sich überhaupt nur wieder deutlich zu ver-
gegenwärtigen: so sehr ist dieser vom Ganzen abhängig und
eben nur im Zusammenhange mit den äusserlichen körperlichen
Motiven der Handlung verständlich, weil er zuerst und zu-
meist nur ein Ausfluss dieser Motive ist.

Diese Beobachtung liefert uns zugleich den Beweis für
einen anderen wichtigen Punkt, dafür nemlich, dass der Aus-
druck des Kopfes nur der eines einzelnen Momentes ist. Von
ihm gilt besonders, was Göthe von der ganzen Gruppe sagt:
"Um die Intention des Laokoon recht zu fassen, stelle man
sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossenen Augen davor;

unterscheiden lasse. „Fern sei es von mir, dass ich die Ein-
heit der menschlichen Natur trennen, dass ich den geistigen
Kräften dieses herrlich gebildeten Mannes ihr Mitwirken ab-
leugnen, dass ich das Streben und Leiden einer grossen Natur
verkennen sollte. Angst, Furcht, Schrecken, väterliche Nei-
gung scheinen auch mir sich durch diese Adern zu bewegen,
in dieser Brust aufzusteigen, auf dieser Stirn sich zu furchen;
gern gesteh’ ich, dass mit dem sinnlichen auch das geistige
Leiden auf der höchsten Stufe dargestellt sei, nur trage man
die Wirkung, die das Kunstwerk auf uns macht, nicht zu
lebhaft auf das Werk selbst über.” So Göthe. Seine letzte
Warnung aber möchte ich namentlich in der Richtung beher-
zigt sehen, dass man nicht versuche, den Ausdruck zu zer-
gliedern oder, schärfer ausgedrückt, zu zerspalten, um etwa
in dem einen Zuge den physischen, in dem andern irgend
einen geistigen Schmerz bestimmter Art nachweisen zu wol-
len. Der körperliche Schmerz ist so gewaltig, dass er sich
über das Ganze bis in die kleinsten Theile verbreitet. Dass
er uns nicht einzig als ein solcher erscheint, liegt allein
darin, dass das Object, an welchem er sich äussert, zu jeder
edeln Empfindung befähigt ist, dass dieser geistige Adel als
die Basis aller Empfindungen überall noch durchschimmert.
Wer mehr als dieses zu erkennen glaubt, dem rathen wir,
einmal den Kopf, etwa im Gypsabguss, ganz von der Gruppe
getrennt zu betrachten und diese, so viel wie möglich, ganz
zu vergessen: er wird sicherlich darauf verzichten, das Ein-
zelne des Ausdrucks nach bestimmten Richtungen nachwei-
sen zu wollen; ja er wird kaum im Stande sein, die Wir-
kung, welche der Kopf beim Anblicke der ganzen Gruppe
hervorgebracht, sich überhaupt nur wieder deutlich zu ver-
gegenwärtigen: so sehr ist dieser vom Ganzen abhängig und
eben nur im Zusammenhange mit den äusserlichen körperlichen
Motiven der Handlung verständlich, weil er zuerst und zu-
meist nur ein Ausfluss dieser Motive ist.

Diese Beobachtung liefert uns zugleich den Beweis für
einen anderen wichtigen Punkt, dafür nemlich, dass der Aus-
druck des Kopfes nur der eines einzelnen Momentes ist. Von
ihm gilt besonders, was Göthe von der ganzen Gruppe sagt:
„Um die Intention des Laokoon recht zu fassen, stelle man
sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossenen Augen davor;

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[490/0503] unterscheiden lasse. „Fern sei es von mir, dass ich die Ein- heit der menschlichen Natur trennen, dass ich den geistigen Kräften dieses herrlich gebildeten Mannes ihr Mitwirken ab- leugnen, dass ich das Streben und Leiden einer grossen Natur verkennen sollte. Angst, Furcht, Schrecken, väterliche Nei- gung scheinen auch mir sich durch diese Adern zu bewegen, in dieser Brust aufzusteigen, auf dieser Stirn sich zu furchen; gern gesteh’ ich, dass mit dem sinnlichen auch das geistige Leiden auf der höchsten Stufe dargestellt sei, nur trage man die Wirkung, die das Kunstwerk auf uns macht, nicht zu lebhaft auf das Werk selbst über.” So Göthe. Seine letzte Warnung aber möchte ich namentlich in der Richtung beher- zigt sehen, dass man nicht versuche, den Ausdruck zu zer- gliedern oder, schärfer ausgedrückt, zu zerspalten, um etwa in dem einen Zuge den physischen, in dem andern irgend einen geistigen Schmerz bestimmter Art nachweisen zu wol- len. Der körperliche Schmerz ist so gewaltig, dass er sich über das Ganze bis in die kleinsten Theile verbreitet. Dass er uns nicht einzig als ein solcher erscheint, liegt allein darin, dass das Object, an welchem er sich äussert, zu jeder edeln Empfindung befähigt ist, dass dieser geistige Adel als die Basis aller Empfindungen überall noch durchschimmert. Wer mehr als dieses zu erkennen glaubt, dem rathen wir, einmal den Kopf, etwa im Gypsabguss, ganz von der Gruppe getrennt zu betrachten und diese, so viel wie möglich, ganz zu vergessen: er wird sicherlich darauf verzichten, das Ein- zelne des Ausdrucks nach bestimmten Richtungen nachwei- sen zu wollen; ja er wird kaum im Stande sein, die Wir- kung, welche der Kopf beim Anblicke der ganzen Gruppe hervorgebracht, sich überhaupt nur wieder deutlich zu ver- gegenwärtigen: so sehr ist dieser vom Ganzen abhängig und eben nur im Zusammenhange mit den äusserlichen körperlichen Motiven der Handlung verständlich, weil er zuerst und zu- meist nur ein Ausfluss dieser Motive ist. Diese Beobachtung liefert uns zugleich den Beweis für einen anderen wichtigen Punkt, dafür nemlich, dass der Aus- druck des Kopfes nur der eines einzelnen Momentes ist. Von ihm gilt besonders, was Göthe von der ganzen Gruppe sagt: „Um die Intention des Laokoon recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossenen Augen davor;

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/503>, abgerufen am 24.11.2024.