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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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gends unter einander in Verwirrung gerathen zu lassen. Die
Künstler hielten also die Figuren möglichst getrennt von ein-
ander; fast nirgends berühren sie sich, nirgends kreuzen sie
sich in ihren Bewegungen. Eben so sind die beiden Schlan-
gen streng von einander gesondert: die eine entwickelt ihre
Thätigkeit an dem unteren, die andere an dem oberen Theile
der Gruppe. Durch ihre Windungen aber verflechten sie die
lose neben einander gestellten Figuren zu einem unlösbaren
Ganzen. Welcker1) hat deshalb über sie Folgendes bemerkt:
"Es zeigt sich auch, dass die zwiefache gleichsam vorsichtige
Umschnürung eines jeden von beiden Kindern um Arm und
Bein nicht allein der Mannigfaltigkeit künstlich verwickelter
Bewegungen der Schlangenleiber dient oder blos die Furcht-
barkeit ihrer unentfliehbaren Verstrickungen verstärkt, sondern
sie geben sich dadurch ausdrucksvoll als die Boten des Rich-
ters zu erkennen, welche wissen, was sie wollen." Das
Berechnende, welches hier den Schlangen selbst beigelegt
wird, dürfen wir aber vielleicht mit eben so grossem Rechte
auch als eine Eigenschaft der Künstler geltend machen, wel-
che durch dieselbe die Schlangen so kunstreich und, von ei-
nem einfachen Gedanken ausgehend, mit vollster Klarheit an-
ordneten. Der Stamm der Körper, in welchem sich die Kräfte
bilden, nemlich Brust und Leib, ist bei allen drei Figuren noch
frei von den Schlangen: die Umschnürung dieser Theile würde
der Phantasie des Beschauers keinen Spielraum übrig lassen;
der Anblick vollkommener Hülflosigkeit würde uns abstossen.
Deshalb sind überall nur die Werkzeuge der Kraftäusserung
gehemmt und gebunden, und obwohl wir erkennen, dass kei-
ner mehr den Umschlingungen der Schlangen entgehen wird,
so bleibt doch unsere Theilnahme lebendig, weil wir nicht die
Kraft selbst vernichtet, sondern nur die Möglichkeit einer
wirksamen Aeusserung derselben unterbrochen sehen: löste
plötzlich eine unerwartete, etwa göttliche Hülfe die Umstrik-
kungen, so würden die jetzt Hülflosen sofort in ihrer früheren
Kraft wieder dastehen. Zugleich aber wird, wie Göthe in sei-
ner noch öfter zu erwähnenden Analyse der Gruppe (in den
Propylaeen) bemerkt, "durch dieses Mittel der Lähmung bei

1) Alt. Denkm. I, S. 327.

gends unter einander in Verwirrung gerathen zu lassen. Die
Künstler hielten also die Figuren möglichst getrennt von ein-
ander; fast nirgends berühren sie sich, nirgends kreuzen sie
sich in ihren Bewegungen. Eben so sind die beiden Schlan-
gen streng von einander gesondert: die eine entwickelt ihre
Thätigkeit an dem unteren, die andere an dem oberen Theile
der Gruppe. Durch ihre Windungen aber verflechten sie die
lose neben einander gestellten Figuren zu einem unlösbaren
Ganzen. Welcker1) hat deshalb über sie Folgendes bemerkt:
„Es zeigt sich auch, dass die zwiefache gleichsam vorsichtige
Umschnürung eines jeden von beiden Kindern um Arm und
Bein nicht allein der Mannigfaltigkeit künstlich verwickelter
Bewegungen der Schlangenleiber dient oder blos die Furcht-
barkeit ihrer unentfliehbaren Verstrickungen verstärkt, sondern
sie geben sich dadurch ausdrucksvoll als die Boten des Rich-
ters zu erkennen, welche wissen, was sie wollen.” Das
Berechnende, welches hier den Schlangen selbst beigelegt
wird, dürfen wir aber vielleicht mit eben so grossem Rechte
auch als eine Eigenschaft der Künstler geltend machen, wel-
che durch dieselbe die Schlangen so kunstreich und, von ei-
nem einfachen Gedanken ausgehend, mit vollster Klarheit an-
ordneten. Der Stamm der Körper, in welchem sich die Kräfte
bilden, nemlich Brust und Leib, ist bei allen drei Figuren noch
frei von den Schlangen: die Umschnürung dieser Theile würde
der Phantasie des Beschauers keinen Spielraum übrig lassen;
der Anblick vollkommener Hülflosigkeit würde uns abstossen.
Deshalb sind überall nur die Werkzeuge der Kraftäusserung
gehemmt und gebunden, und obwohl wir erkennen, dass kei-
ner mehr den Umschlingungen der Schlangen entgehen wird,
so bleibt doch unsere Theilnahme lebendig, weil wir nicht die
Kraft selbst vernichtet, sondern nur die Möglichkeit einer
wirksamen Aeusserung derselben unterbrochen sehen: löste
plötzlich eine unerwartete, etwa göttliche Hülfe die Umstrik-
kungen, so würden die jetzt Hülflosen sofort in ihrer früheren
Kraft wieder dastehen. Zugleich aber wird, wie Göthe in sei-
ner noch öfter zu erwähnenden Analyse der Gruppe (in den
Propylaeen) bemerkt, „durch dieses Mittel der Lähmung bei

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[485/0498] gends unter einander in Verwirrung gerathen zu lassen. Die Künstler hielten also die Figuren möglichst getrennt von ein- ander; fast nirgends berühren sie sich, nirgends kreuzen sie sich in ihren Bewegungen. Eben so sind die beiden Schlan- gen streng von einander gesondert: die eine entwickelt ihre Thätigkeit an dem unteren, die andere an dem oberen Theile der Gruppe. Durch ihre Windungen aber verflechten sie die lose neben einander gestellten Figuren zu einem unlösbaren Ganzen. Welcker 1) hat deshalb über sie Folgendes bemerkt: „Es zeigt sich auch, dass die zwiefache gleichsam vorsichtige Umschnürung eines jeden von beiden Kindern um Arm und Bein nicht allein der Mannigfaltigkeit künstlich verwickelter Bewegungen der Schlangenleiber dient oder blos die Furcht- barkeit ihrer unentfliehbaren Verstrickungen verstärkt, sondern sie geben sich dadurch ausdrucksvoll als die Boten des Rich- ters zu erkennen, welche wissen, was sie wollen.” Das Berechnende, welches hier den Schlangen selbst beigelegt wird, dürfen wir aber vielleicht mit eben so grossem Rechte auch als eine Eigenschaft der Künstler geltend machen, wel- che durch dieselbe die Schlangen so kunstreich und, von ei- nem einfachen Gedanken ausgehend, mit vollster Klarheit an- ordneten. Der Stamm der Körper, in welchem sich die Kräfte bilden, nemlich Brust und Leib, ist bei allen drei Figuren noch frei von den Schlangen: die Umschnürung dieser Theile würde der Phantasie des Beschauers keinen Spielraum übrig lassen; der Anblick vollkommener Hülflosigkeit würde uns abstossen. Deshalb sind überall nur die Werkzeuge der Kraftäusserung gehemmt und gebunden, und obwohl wir erkennen, dass kei- ner mehr den Umschlingungen der Schlangen entgehen wird, so bleibt doch unsere Theilnahme lebendig, weil wir nicht die Kraft selbst vernichtet, sondern nur die Möglichkeit einer wirksamen Aeusserung derselben unterbrochen sehen: löste plötzlich eine unerwartete, etwa göttliche Hülfe die Umstrik- kungen, so würden die jetzt Hülflosen sofort in ihrer früheren Kraft wieder dastehen. Zugleich aber wird, wie Göthe in sei- ner noch öfter zu erwähnenden Analyse der Gruppe (in den Propylaeen) bemerkt, „durch dieses Mittel der Lähmung bei 1) Alt. Denkm. I, S. 327.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/498>, abgerufen am 22.11.2024.