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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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der Kunst nichts seltenes: wir finden sie namentlich als Schmuck
der Tempelgiebel oder als grössere Weihgeschenke. Die ein-
zelnen Figuren erscheinen hier äusserlich von einander ge-
trennt, aber nicht selbstständig, sondern sind stets der Haupt-
handlung untergeordnet; und selbst eng vereinigte kleinere
Gruppen, wie die Frauen im Giebel des Parthenon, der Paeda-
gog mit dem Knaben unter den Niobiden, erhalten doch ihre
volle Geltung erst im Zusammenhange des Ganzen. Die Schön-
heit dieses Ganzen aber offenbart sich zuerst in der Dispo-
sition
der Figuren. -- Von solchen Gruppen unterscheiden
sich nun wesentlich diejenigen, welche auch materiell eine ab-
geschlossene Einheit bilden. Denn während in jenen alle Mo-
mente der Handlung in ihrer Breite dargelegt, ausgeführt und
durch Nebenfiguren motivirt werden können, concentrirt sich
in diesen die ganze Handlung in einem möglichst geringen
Raume. Die Schönheit solcher Gruppen beruht also im streng-
sten Wortsinne vornehmlich auf der Composition der Theile.
Die Schwierigkeiten derselben wachsen aber mit der Zahl der
zu verbindenden Theile in geometrischer Proportion. Während
bei zwei Figuren eine und dieselbe Handlung sich oft in sehr
verschiedener Weise als künstlerische Einheit erfassen lässt,
wird bei drei Figuren die blosse Nothwendigkeit eines äusse-
ren Gleichgewichtes weit geringere Wahl übrig lassen. In der
Gruppe des Laokoon nun gesellen sich zu den drei mensch-
lichen Figuren noch die beiden Schlangen, und obwohl sie der
Masse nach den Menschen untergeordnet sind, so treten sie
doch in der Handlung mit ihnen vollkommen gleich berechtigt
auf. Das zu lösende Problem ist also hier von der complicir-
testen Art, die Handlung eine der aussergewöhnlichsten, wie
sie fast nur im Bereiche der Möglichkeit, kaum der Wahr-
scheinlichkeit liegt. Von einer Beobachtung derselben in der
Wirklichkeit kann also nicht die Rede sein. Auch ein einzi-
ger, lebendig erfasster genialer Gedanke reicht für die Schö-
pfung eines aus solchen Momenten gebildeten Werkes kaum
hin, höchstens für einen ersten Entwurf in unbestimmten Um-
rissen. Die Künstler arbeiteten vielmehr, nach dem Ausdrucke
des Plinius de consilii sententia, mit der feinsten, allseitigsten
Berechnung und Ueberlegung. Wie bei den Formen die Deut-
lichkeit, so war es auch hier wieder die erste Aufgabe, die
einzelnen Glieder der Gruppe übersichtlich zu ordnen, sie nir-

der Kunst nichts seltenes: wir finden sie namentlich als Schmuck
der Tempelgiebel oder als grössere Weihgeschenke. Die ein-
zelnen Figuren erscheinen hier äusserlich von einander ge-
trennt, aber nicht selbstständig, sondern sind stets der Haupt-
handlung untergeordnet; und selbst eng vereinigte kleinere
Gruppen, wie die Frauen im Giebel des Parthenon, der Paeda-
gog mit dem Knaben unter den Niobiden, erhalten doch ihre
volle Geltung erst im Zusammenhange des Ganzen. Die Schön-
heit dieses Ganzen aber offenbart sich zuerst in der Dispo-
sition
der Figuren. — Von solchen Gruppen unterscheiden
sich nun wesentlich diejenigen, welche auch materiell eine ab-
geschlossene Einheit bilden. Denn während in jenen alle Mo-
mente der Handlung in ihrer Breite dargelegt, ausgeführt und
durch Nebenfiguren motivirt werden können, concentrirt sich
in diesen die ganze Handlung in einem möglichst geringen
Raume. Die Schönheit solcher Gruppen beruht also im streng-
sten Wortsinne vornehmlich auf der Composition der Theile.
Die Schwierigkeiten derselben wachsen aber mit der Zahl der
zu verbindenden Theile in geometrischer Proportion. Während
bei zwei Figuren eine und dieselbe Handlung sich oft in sehr
verschiedener Weise als künstlerische Einheit erfassen lässt,
wird bei drei Figuren die blosse Nothwendigkeit eines äusse-
ren Gleichgewichtes weit geringere Wahl übrig lassen. In der
Gruppe des Laokoon nun gesellen sich zu den drei mensch-
lichen Figuren noch die beiden Schlangen, und obwohl sie der
Masse nach den Menschen untergeordnet sind, so treten sie
doch in der Handlung mit ihnen vollkommen gleich berechtigt
auf. Das zu lösende Problem ist also hier von der complicir-
testen Art, die Handlung eine der aussergewöhnlichsten, wie
sie fast nur im Bereiche der Möglichkeit, kaum der Wahr-
scheinlichkeit liegt. Von einer Beobachtung derselben in der
Wirklichkeit kann also nicht die Rede sein. Auch ein einzi-
ger, lebendig erfasster genialer Gedanke reicht für die Schö-
pfung eines aus solchen Momenten gebildeten Werkes kaum
hin, höchstens für einen ersten Entwurf in unbestimmten Um-
rissen. Die Künstler arbeiteten vielmehr, nach dem Ausdrucke
des Plinius de consilii sententia, mit der feinsten, allseitigsten
Berechnung und Ueberlegung. Wie bei den Formen die Deut-
lichkeit, so war es auch hier wieder die erste Aufgabe, die
einzelnen Glieder der Gruppe übersichtlich zu ordnen, sie nir-

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[484/0497] der Kunst nichts seltenes: wir finden sie namentlich als Schmuck der Tempelgiebel oder als grössere Weihgeschenke. Die ein- zelnen Figuren erscheinen hier äusserlich von einander ge- trennt, aber nicht selbstständig, sondern sind stets der Haupt- handlung untergeordnet; und selbst eng vereinigte kleinere Gruppen, wie die Frauen im Giebel des Parthenon, der Paeda- gog mit dem Knaben unter den Niobiden, erhalten doch ihre volle Geltung erst im Zusammenhange des Ganzen. Die Schön- heit dieses Ganzen aber offenbart sich zuerst in der Dispo- sition der Figuren. — Von solchen Gruppen unterscheiden sich nun wesentlich diejenigen, welche auch materiell eine ab- geschlossene Einheit bilden. Denn während in jenen alle Mo- mente der Handlung in ihrer Breite dargelegt, ausgeführt und durch Nebenfiguren motivirt werden können, concentrirt sich in diesen die ganze Handlung in einem möglichst geringen Raume. Die Schönheit solcher Gruppen beruht also im streng- sten Wortsinne vornehmlich auf der Composition der Theile. Die Schwierigkeiten derselben wachsen aber mit der Zahl der zu verbindenden Theile in geometrischer Proportion. Während bei zwei Figuren eine und dieselbe Handlung sich oft in sehr verschiedener Weise als künstlerische Einheit erfassen lässt, wird bei drei Figuren die blosse Nothwendigkeit eines äusse- ren Gleichgewichtes weit geringere Wahl übrig lassen. In der Gruppe des Laokoon nun gesellen sich zu den drei mensch- lichen Figuren noch die beiden Schlangen, und obwohl sie der Masse nach den Menschen untergeordnet sind, so treten sie doch in der Handlung mit ihnen vollkommen gleich berechtigt auf. Das zu lösende Problem ist also hier von der complicir- testen Art, die Handlung eine der aussergewöhnlichsten, wie sie fast nur im Bereiche der Möglichkeit, kaum der Wahr- scheinlichkeit liegt. Von einer Beobachtung derselben in der Wirklichkeit kann also nicht die Rede sein. Auch ein einzi- ger, lebendig erfasster genialer Gedanke reicht für die Schö- pfung eines aus solchen Momenten gebildeten Werkes kaum hin, höchstens für einen ersten Entwurf in unbestimmten Um- rissen. Die Künstler arbeiteten vielmehr, nach dem Ausdrucke des Plinius de consilii sententia, mit der feinsten, allseitigsten Berechnung und Ueberlegung. Wie bei den Formen die Deut- lichkeit, so war es auch hier wieder die erste Aufgabe, die einzelnen Glieder der Gruppe übersichtlich zu ordnen, sie nir-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/497>, abgerufen am 21.05.2024.