samkeit zu. Zwar bildet Praxiteles die ganze Reihe der Zwölf- götter, und auch unter den Werken des Skopas finden wir einzelne Göttergestalten von einer vorzugsweise geistigen, ethi- schen Bedeutung. Der höchste Ruhm dieser Künstler beruht indessen auf den Bildern der Aphrodite, Demeter, Persephone, Flora, des Eros, Dionysos, Apollo, also weiblicher oder ju- gendlicher männlicher Gestalten, sowie auf den Darstellungen der Wesen aus der Begleitung dieser und anderer Gottheiten.
In Betracht dieser Analogien werden wir, wenn wir über- haupt das Unterscheidende der beiden Künstler auffinden wol- len, mehr in Einzelnheiten eingehen und untersuchen müssen, unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten sie verwandte Aufgaben aufgefasst und behandelt haben. Und da natürlich auch für Praxiteles gilt, was wir bei Skopas über ein blosses Anschliessen an die Muster der vorhergehenden Kunstepoche gesagt, so werden wir unsere Untersuchungen am besten an ein Werk knüpfen, welches gewiss deshalb zu so ausserordentli- chem Ansehen gelangt ist, weil es der geistigen Eigenthümlich- keit des Künstlers am meisten entsprach, nemlich die knidische Aphrodite. Eine Reihe von Epigrammen können wir zunächst ganz unberücksichtigt lassen 1). Sie enthalten nichts als Va- riationen auf das Thema: Praxiteles müsse die Göttin selbst gesehen haben, nicht schöner könne sie dem Paris erschienen sein; der Stein sei Fleisch geworden u. s. w. Wichtiger sind uns die Schilderungen Lucians an zwei verschiedenen Stellen, welche sich gegenseitig ergänzen. Die erste 2) enthält Fol- gendes: "Die Göttin steht in der Mitte des Tempels, aus pa- rischem Stein das schönste Kunstgebilde, hoch erhaben und den Mund ein wenig wie zu leisem Lächeln öffnend. Ihre ganze Schönheit steht frei da, kein Gewand umhüllt sie, nur bedeckt sie wie unwillkürlich die Schaam mit der einen Hand. So weit aber erstreckte die bildende Kunst ihre Macht, dass durch sie die Widerstand leistende und harte Natur des Steins für alle Glieder passend erschien." Nachdem darauf der Er- zähler sich nach der hinteren Thür des Tempels gewendet hat, um von dort aus den Rücken der Göttin zu beschauen, geräth namentlich der eine seiner Begleiter, welcher nach Lucians
1) Anall. I, p. 165, n. 8--9; p. 170, n. 9--10; p. 193. II, p. 14, n. 31; p. 308, n. 2--3; III, p. 200, 245, 248. Auson. ep. 57.
2) Amor. 13.
samkeit zu. Zwar bildet Praxiteles die ganze Reihe der Zwölf- götter, und auch unter den Werken des Skopas finden wir einzelne Göttergestalten von einer vorzugsweise geistigen, ethi- schen Bedeutung. Der höchste Ruhm dieser Künstler beruht indessen auf den Bildern der Aphrodite, Demeter, Persephone, Flora, des Eros, Dionysos, Apollo, also weiblicher oder ju- gendlicher männlicher Gestalten, sowie auf den Darstellungen der Wesen aus der Begleitung dieser und anderer Gottheiten.
In Betracht dieser Analogien werden wir, wenn wir über- haupt das Unterscheidende der beiden Künstler auffinden wol- len, mehr in Einzelnheiten eingehen und untersuchen müssen, unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten sie verwandte Aufgaben aufgefasst und behandelt haben. Und da natürlich auch für Praxiteles gilt, was wir bei Skopas über ein blosses Anschliessen an die Muster der vorhergehenden Kunstepoche gesagt, so werden wir unsere Untersuchungen am besten an ein Werk knüpfen, welches gewiss deshalb zu so ausserordentli- chem Ansehen gelangt ist, weil es der geistigen Eigenthümlich- keit des Künstlers am meisten entsprach, nemlich die knidische Aphrodite. Eine Reihe von Epigrammen können wir zunächst ganz unberücksichtigt lassen 1). Sie enthalten nichts als Va- riationen auf das Thema: Praxiteles müsse die Göttin selbst gesehen haben, nicht schöner könne sie dem Paris erschienen sein; der Stein sei Fleisch geworden u. s. w. Wichtiger sind uns die Schilderungen Lucians an zwei verschiedenen Stellen, welche sich gegenseitig ergänzen. Die erste 2) enthält Fol- gendes: „Die Göttin steht in der Mitte des Tempels, aus pa- rischem Stein das schönste Kunstgebilde, hoch erhaben und den Mund ein wenig wie zu leisem Lächeln öffnend. Ihre ganze Schönheit steht frei da, kein Gewand umhüllt sie, nur bedeckt sie wie unwillkürlich die Schaam mit der einen Hand. So weit aber erstreckte die bildende Kunst ihre Macht, dass durch sie die Widerstand leistende und harte Natur des Steins für alle Glieder passend erschien.” Nachdem darauf der Er- zähler sich nach der hinteren Thür des Tempels gewendet hat, um von dort aus den Rücken der Göttin zu beschauen, geräth namentlich der eine seiner Begleiter, welcher nach Lucians
1) Anall. I, p. 165, n. 8—9; p. 170, n. 9—10; p. 193. II, p. 14, n. 31; p. 308, n. 2—3; III, p. 200, 245, 248. Auson. ep. 57.
2) Amor. 13.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0359"n="346"/>
samkeit zu. Zwar bildet Praxiteles die ganze Reihe der Zwölf-<lb/>
götter, und auch unter den Werken des Skopas finden wir<lb/>
einzelne Göttergestalten von einer vorzugsweise geistigen, ethi-<lb/>
schen Bedeutung. Der höchste Ruhm dieser Künstler beruht<lb/>
indessen auf den Bildern der Aphrodite, Demeter, Persephone,<lb/>
Flora, des Eros, Dionysos, Apollo, also weiblicher oder ju-<lb/>
gendlicher männlicher Gestalten, sowie auf den Darstellungen<lb/>
der Wesen aus der Begleitung dieser und anderer Gottheiten.</p><lb/><p>In Betracht dieser Analogien werden wir, wenn wir über-<lb/>
haupt das Unterscheidende der beiden Künstler auffinden wol-<lb/>
len, mehr in Einzelnheiten eingehen und untersuchen müssen,<lb/>
unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten sie verwandte<lb/>
Aufgaben aufgefasst und behandelt haben. Und da natürlich<lb/>
auch für Praxiteles gilt, was wir bei Skopas über ein blosses<lb/>
Anschliessen an die Muster der vorhergehenden Kunstepoche<lb/>
gesagt, so werden wir unsere Untersuchungen am besten an<lb/>
ein Werk knüpfen, welches gewiss deshalb zu so ausserordentli-<lb/>
chem Ansehen gelangt ist, weil es der geistigen Eigenthümlich-<lb/>
keit des Künstlers am meisten entsprach, nemlich die knidische<lb/>
Aphrodite. Eine Reihe von Epigrammen können wir zunächst<lb/>
ganz unberücksichtigt lassen <noteplace="foot"n="1)">Anall. I, p. 165, n. 8—9; p. 170, n. 9—10; p. 193. II, p. 14, n. 31;<lb/>
p. 308, n. 2—3; III, p. 200, 245, 248. Auson. ep. 57.</note>. Sie enthalten nichts als Va-<lb/>
riationen auf das Thema: Praxiteles müsse die Göttin selbst<lb/>
gesehen haben, nicht schöner könne sie dem Paris erschienen<lb/>
sein; der Stein sei Fleisch geworden u. s. w. Wichtiger sind<lb/>
uns die Schilderungen Lucians an zwei verschiedenen Stellen,<lb/>
welche sich gegenseitig ergänzen. Die erste <noteplace="foot"n="2)">Amor. 13.</note> enthält Fol-<lb/>
gendes: „Die Göttin steht in der Mitte des Tempels, aus pa-<lb/>
rischem Stein das schönste Kunstgebilde, hoch erhaben und<lb/>
den Mund ein wenig wie zu leisem Lächeln öffnend. Ihre<lb/>
ganze Schönheit steht frei da, kein Gewand umhüllt sie, nur<lb/>
bedeckt sie wie unwillkürlich die Schaam mit der einen Hand.<lb/>
So weit aber erstreckte die bildende Kunst ihre Macht, dass<lb/>
durch sie die Widerstand leistende und harte Natur des Steins<lb/>
für alle Glieder passend erschien.” Nachdem darauf der Er-<lb/>
zähler sich nach der hinteren Thür des Tempels gewendet hat,<lb/>
um von dort aus den Rücken der Göttin zu beschauen, geräth<lb/>
namentlich der eine seiner Begleiter, welcher nach Lucians<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[346/0359]
samkeit zu. Zwar bildet Praxiteles die ganze Reihe der Zwölf-
götter, und auch unter den Werken des Skopas finden wir
einzelne Göttergestalten von einer vorzugsweise geistigen, ethi-
schen Bedeutung. Der höchste Ruhm dieser Künstler beruht
indessen auf den Bildern der Aphrodite, Demeter, Persephone,
Flora, des Eros, Dionysos, Apollo, also weiblicher oder ju-
gendlicher männlicher Gestalten, sowie auf den Darstellungen
der Wesen aus der Begleitung dieser und anderer Gottheiten.
In Betracht dieser Analogien werden wir, wenn wir über-
haupt das Unterscheidende der beiden Künstler auffinden wol-
len, mehr in Einzelnheiten eingehen und untersuchen müssen,
unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten sie verwandte
Aufgaben aufgefasst und behandelt haben. Und da natürlich
auch für Praxiteles gilt, was wir bei Skopas über ein blosses
Anschliessen an die Muster der vorhergehenden Kunstepoche
gesagt, so werden wir unsere Untersuchungen am besten an
ein Werk knüpfen, welches gewiss deshalb zu so ausserordentli-
chem Ansehen gelangt ist, weil es der geistigen Eigenthümlich-
keit des Künstlers am meisten entsprach, nemlich die knidische
Aphrodite. Eine Reihe von Epigrammen können wir zunächst
ganz unberücksichtigt lassen 1). Sie enthalten nichts als Va-
riationen auf das Thema: Praxiteles müsse die Göttin selbst
gesehen haben, nicht schöner könne sie dem Paris erschienen
sein; der Stein sei Fleisch geworden u. s. w. Wichtiger sind
uns die Schilderungen Lucians an zwei verschiedenen Stellen,
welche sich gegenseitig ergänzen. Die erste 2) enthält Fol-
gendes: „Die Göttin steht in der Mitte des Tempels, aus pa-
rischem Stein das schönste Kunstgebilde, hoch erhaben und
den Mund ein wenig wie zu leisem Lächeln öffnend. Ihre
ganze Schönheit steht frei da, kein Gewand umhüllt sie, nur
bedeckt sie wie unwillkürlich die Schaam mit der einen Hand.
So weit aber erstreckte die bildende Kunst ihre Macht, dass
durch sie die Widerstand leistende und harte Natur des Steins
für alle Glieder passend erschien.” Nachdem darauf der Er-
zähler sich nach der hinteren Thür des Tempels gewendet hat,
um von dort aus den Rücken der Göttin zu beschauen, geräth
namentlich der eine seiner Begleiter, welcher nach Lucians
1) Anall. I, p. 165, n. 8—9; p. 170, n. 9—10; p. 193. II, p. 14, n. 31;
p. 308, n. 2—3; III, p. 200, 245, 248. Auson. ep. 57.
2) Amor. 13.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/359>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.