teles wirklich als ausübender Maler zu denken ist. Er legte auf die Bemalung (circumlitio) seiner Marmorwerke einen ho- hen Werth, und schätzte sogar aus diesem Grunde diejenigen unter ihnen am höchsten, an welchen dieselbe von der Hand eines in diesem Kunstzweige besonders ausgezeichneten Mei- sters, Nikias, ausgeführt wurde. Es ist daher nicht unwahr- scheinlich, dass auch er selbst sich um das technische Ver- fahren dieser Kunst bekümmert habe und auf diese Weise dazu gekommen sei, eine Erfindung zu machen, die selbst für die eigentliche, höhere Malerei von wesentlichem Nutzen sein konnte.
Bei der Beurtheilung des Praxiteles werden wir von einer Thatsache ausgehen, die an sich mehr zu Zweifeln, als zu Aufklärungen führen zu müssen scheint: nemlich davon, dass bei den Niobiden, einem Werke, welches gewiss in vie- ler Beziehung das geistige Wesen seines Urhebers charakteri- siren musste; die Kunstkenner des Alterthums schwankten, ob es dem Skopas oder dem Praxiteles beizulegen sei. Wir dür- fen daraus gewiss eine Folgerung mit voller Bestimmtheit ziehen: dass die beiden Künstler nicht geradezu entgegenge- setzte oder auch nur wesentlich verschiedene Richtungen ver- folgten, sondern in vielen, wenn nicht in den meisten Dingen von einer gemeinschaftlichen oder ähnlichen Grundanschauung der Kunst ausgingen. Den ersten, mehr äusserlichen Beweis für diese Behauptung liefert schon die Wahl des Materials: Skopas arbeitete fast ausschliesslich in Marmor, "Praxiteles war im Marmor glücklicher, als im Erz, und daher auch be- rühmter", "übertraf im Marmor sich selbst" 1). Zweitens zeigt sich aber eine gewisse Verwandtschaft auch in der Wahl der dargestellten Gegenstände. Bilder wirklicher Personen sind bei Skopas gänzlich unbekannt; bei Praxiteles finden wir sie in beschränktem Maasse: die Portraits der Phryne aber scheinen sich in gewisser Beziehung den Gestalten aus dem Kreise der Aphrodite angeschlossen zu haben; die des Harmodios und Ari- stogeiton nähern sich dem allgemeinen Charakter der Heroen. Diese selbst aber nehmen ebenfalls unter den Werken keines der beiden Künstler eine hervorragende Stelle ein. Ja sogar unter den Göttern wenden sie nicht allen eine gleiche Aufmerk-
1) Plin. 34, 69; 36, 20.
teles wirklich als ausübender Maler zu denken ist. Er legte auf die Bemalung (circumlitio) seiner Marmorwerke einen ho- hen Werth, und schätzte sogar aus diesem Grunde diejenigen unter ihnen am höchsten, an welchen dieselbe von der Hand eines in diesem Kunstzweige besonders ausgezeichneten Mei- sters, Nikias, ausgeführt wurde. Es ist daher nicht unwahr- scheinlich, dass auch er selbst sich um das technische Ver- fahren dieser Kunst bekümmert habe und auf diese Weise dazu gekommen sei, eine Erfindung zu machen, die selbst für die eigentliche, höhere Malerei von wesentlichem Nutzen sein konnte.
Bei der Beurtheilung des Praxiteles werden wir von einer Thatsache ausgehen, die an sich mehr zu Zweifeln, als zu Aufklärungen führen zu müssen scheint: nemlich davon, dass bei den Niobiden, einem Werke, welches gewiss in vie- ler Beziehung das geistige Wesen seines Urhebers charakteri- siren musste; die Kunstkenner des Alterthums schwankten, ob es dem Skopas oder dem Praxiteles beizulegen sei. Wir dür- fen daraus gewiss eine Folgerung mit voller Bestimmtheit ziehen: dass die beiden Künstler nicht geradezu entgegenge- setzte oder auch nur wesentlich verschiedene Richtungen ver- folgten, sondern in vielen, wenn nicht in den meisten Dingen von einer gemeinschaftlichen oder ähnlichen Grundanschauung der Kunst ausgingen. Den ersten, mehr äusserlichen Beweis für diese Behauptung liefert schon die Wahl des Materials: Skopas arbeitete fast ausschliesslich in Marmor, „Praxiteles war im Marmor glücklicher, als im Erz, und daher auch be- rühmter”, „übertraf im Marmor sich selbst” 1). Zweitens zeigt sich aber eine gewisse Verwandtschaft auch in der Wahl der dargestellten Gegenstände. Bilder wirklicher Personen sind bei Skopas gänzlich unbekannt; bei Praxiteles finden wir sie in beschränktem Maasse: die Portraits der Phryne aber scheinen sich in gewisser Beziehung den Gestalten aus dem Kreise der Aphrodite angeschlossen zu haben; die des Harmodios und Ari- stogeiton nähern sich dem allgemeinen Charakter der Heroen. Diese selbst aber nehmen ebenfalls unter den Werken keines der beiden Künstler eine hervorragende Stelle ein. Ja sogar unter den Göttern wenden sie nicht allen eine gleiche Aufmerk-
1) Plin. 34, 69; 36, 20.
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unter ihnen am höchsten, an welchen dieselbe von der Hand
eines in diesem Kunstzweige besonders ausgezeichneten Mei-
sters, Nikias, ausgeführt wurde. Es ist daher nicht unwahr-
scheinlich, dass auch er selbst sich um das technische Ver-
fahren dieser Kunst bekümmert habe und auf diese Weise
dazu gekommen sei, eine Erfindung zu machen, die selbst
für die eigentliche, höhere Malerei von wesentlichem Nutzen
sein konnte.
Bei der Beurtheilung des Praxiteles werden wir von einer
Thatsache ausgehen, die an sich mehr zu Zweifeln, als zu
Aufklärungen führen zu müssen scheint: nemlich davon,
dass bei den Niobiden, einem Werke, welches gewiss in vie-
ler Beziehung das geistige Wesen seines Urhebers charakteri-
siren musste; die Kunstkenner des Alterthums schwankten, ob
es dem Skopas oder dem Praxiteles beizulegen sei. Wir dür-
fen daraus gewiss eine Folgerung mit voller Bestimmtheit
ziehen: dass die beiden Künstler nicht geradezu entgegenge-
setzte oder auch nur wesentlich verschiedene Richtungen ver-
folgten, sondern in vielen, wenn nicht in den meisten Dingen
von einer gemeinschaftlichen oder ähnlichen Grundanschauung
der Kunst ausgingen. Den ersten, mehr äusserlichen Beweis
für diese Behauptung liefert schon die Wahl des Materials:
Skopas arbeitete fast ausschliesslich in Marmor, „Praxiteles
war im Marmor glücklicher, als im Erz, und daher auch be-
rühmter”, „übertraf im Marmor sich selbst” 1). Zweitens zeigt
sich aber eine gewisse Verwandtschaft auch in der Wahl der
dargestellten Gegenstände. Bilder wirklicher Personen sind bei
Skopas gänzlich unbekannt; bei Praxiteles finden wir sie in
beschränktem Maasse: die Portraits der Phryne aber scheinen
sich in gewisser Beziehung den Gestalten aus dem Kreise der
Aphrodite angeschlossen zu haben; die des Harmodios und Ari-
stogeiton nähern sich dem allgemeinen Charakter der Heroen.
Diese selbst aber nehmen ebenfalls unter den Werken keines
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1) Plin. 34, 69; 36, 20.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/358>, abgerufen am 22.11.2024.
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