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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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chische Volk hat die Schranken der alten National-Grund-
sätze gesprengt; und, wie im öffentlichen Leben, so drängt
sich auch in allen Künsten Sucht nach Genuss und Verlangen
nach heftigeren Aufregungen des Gemüthes mehr hervor"
(Müller Hdb. d. Arch. §. 103; vgl. die einzelnen Belege in den
Noten). Zunächst mochte das Vorbild der grossen Geister,
welche die bildende Kunst nicht lange vorher zur Freiheit ge-
führt hatten, dem Misbrauch derselben noch vorbeugen. Aber
nach ihrem und ihrer Schüler Tode musste dieser Einfluss sich
stets mindern, die Forderung nach der Befriedigung neuer
Wünsche dagegen wachsen. Wie mächtig indessen der erstere
noch immer war, zeigt sich daran, dass ein entschiedener Um-
schwung erst etwa funfzig Jahre nach Phidias Tode eintritt.
Um jedoch die Richtung, in welcher er stattfand, vollständig
zu würdigen, müssen wir schliesslich auch die aus dem inne-
ren Wesen der Kunst selbst sich ergebenden Entwickelungs-
gesetze in Erwägung ziehen und namentlich einen Blick auf
die Schwesterkünste der Sculptur, auf Architektur und Male-
rei, werfen. Die Sculptur hatte sich noch bis zur Zeit des
Phidias selbst an der Architektur grossgezogen und vielfach
den Zwecken der letzteren untergeordnet. Aber durch Befol-
gen des strengen mathematischen Gesetzes, welches in dieser
Kunst sich mit grosser Schärfe und Klarheit geltend macht,
hatte sie selbst ein festes Gesetz gewonnen und sich mit Si-
cherheit frei und unabhängig zu bewegen gelernt. Aehnliches
begab sich auf dem Gebiete der Malerei: auch sie suchte sich
von den beschränkenden Forderungen der Architektur zu be-
freien und selbstständiger auszubilden, früher freilich mehr in
Ansehung der Composition und Zeichnung, als der Farbe und
Schattengebung. Die Vollendung der Sculptur, welche jetzt
mit der Natur in ihren schönsten Bildungen wetteiferte, musste
nun aber auffordern, mit den relativ bedeutenderen Hülfsmit-
teln, welche der Malerei für die Nachahmung der Natur zu
Gebote stehen, Gleiches zu wagen. Allein Farbe, Licht und
Schatten und deren Wirken auf die Gegenstände sind wandel-
bar und vielfachen Wechseln unterworfen. Es konnte daher
nicht ausbleiben, dass man anfing, statt mit der Wirklichkeit
mit dem Scheine derselben zu wetteifern und geradezu Täu-
schung zu versuchen. Wir werden in der Geschichte der Ma-
ler sehen, dass dieser Umschwung namentlich durch den Ein-

chische Volk hat die Schranken der alten National-Grund-
sätze gesprengt; und, wie im öffentlichen Leben, so drängt
sich auch in allen Künsten Sucht nach Genuss und Verlangen
nach heftigeren Aufregungen des Gemüthes mehr hervor”
(Müller Hdb. d. Arch. §. 103; vgl. die einzelnen Belege in den
Noten). Zunächst mochte das Vorbild der grossen Geister,
welche die bildende Kunst nicht lange vorher zur Freiheit ge-
führt hatten, dem Misbrauch derselben noch vorbeugen. Aber
nach ihrem und ihrer Schüler Tode musste dieser Einfluss sich
stets mindern, die Forderung nach der Befriedigung neuer
Wünsche dagegen wachsen. Wie mächtig indessen der erstere
noch immer war, zeigt sich daran, dass ein entschiedener Um-
schwung erst etwa funfzig Jahre nach Phidias Tode eintritt.
Um jedoch die Richtung, in welcher er stattfand, vollständig
zu würdigen, müssen wir schliesslich auch die aus dem inne-
ren Wesen der Kunst selbst sich ergebenden Entwickelungs-
gesetze in Erwägung ziehen und namentlich einen Blick auf
die Schwesterkünste der Sculptur, auf Architektur und Male-
rei, werfen. Die Sculptur hatte sich noch bis zur Zeit des
Phidias selbst an der Architektur grossgezogen und vielfach
den Zwecken der letzteren untergeordnet. Aber durch Befol-
gen des strengen mathematischen Gesetzes, welches in dieser
Kunst sich mit grosser Schärfe und Klarheit geltend macht,
hatte sie selbst ein festes Gesetz gewonnen und sich mit Si-
cherheit frei und unabhängig zu bewegen gelernt. Aehnliches
begab sich auf dem Gebiete der Malerei: auch sie suchte sich
von den beschränkenden Forderungen der Architektur zu be-
freien und selbstständiger auszubilden, früher freilich mehr in
Ansehung der Composition und Zeichnung, als der Farbe und
Schattengebung. Die Vollendung der Sculptur, welche jetzt
mit der Natur in ihren schönsten Bildungen wetteiferte, musste
nun aber auffordern, mit den relativ bedeutenderen Hülfsmit-
teln, welche der Malerei für die Nachahmung der Natur zu
Gebote stehen, Gleiches zu wagen. Allein Farbe, Licht und
Schatten und deren Wirken auf die Gegenstände sind wandel-
bar und vielfachen Wechseln unterworfen. Es konnte daher
nicht ausbleiben, dass man anfing, statt mit der Wirklichkeit
mit dem Scheine derselben zu wetteifern und geradezu Täu-
schung zu versuchen. Wir werden in der Geschichte der Ma-
ler sehen, dass dieser Umschwung namentlich durch den Ein-

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[313/0326] chische Volk hat die Schranken der alten National-Grund- sätze gesprengt; und, wie im öffentlichen Leben, so drängt sich auch in allen Künsten Sucht nach Genuss und Verlangen nach heftigeren Aufregungen des Gemüthes mehr hervor” (Müller Hdb. d. Arch. §. 103; vgl. die einzelnen Belege in den Noten). Zunächst mochte das Vorbild der grossen Geister, welche die bildende Kunst nicht lange vorher zur Freiheit ge- führt hatten, dem Misbrauch derselben noch vorbeugen. Aber nach ihrem und ihrer Schüler Tode musste dieser Einfluss sich stets mindern, die Forderung nach der Befriedigung neuer Wünsche dagegen wachsen. Wie mächtig indessen der erstere noch immer war, zeigt sich daran, dass ein entschiedener Um- schwung erst etwa funfzig Jahre nach Phidias Tode eintritt. Um jedoch die Richtung, in welcher er stattfand, vollständig zu würdigen, müssen wir schliesslich auch die aus dem inne- ren Wesen der Kunst selbst sich ergebenden Entwickelungs- gesetze in Erwägung ziehen und namentlich einen Blick auf die Schwesterkünste der Sculptur, auf Architektur und Male- rei, werfen. Die Sculptur hatte sich noch bis zur Zeit des Phidias selbst an der Architektur grossgezogen und vielfach den Zwecken der letzteren untergeordnet. Aber durch Befol- gen des strengen mathematischen Gesetzes, welches in dieser Kunst sich mit grosser Schärfe und Klarheit geltend macht, hatte sie selbst ein festes Gesetz gewonnen und sich mit Si- cherheit frei und unabhängig zu bewegen gelernt. Aehnliches begab sich auf dem Gebiete der Malerei: auch sie suchte sich von den beschränkenden Forderungen der Architektur zu be- freien und selbstständiger auszubilden, früher freilich mehr in Ansehung der Composition und Zeichnung, als der Farbe und Schattengebung. Die Vollendung der Sculptur, welche jetzt mit der Natur in ihren schönsten Bildungen wetteiferte, musste nun aber auffordern, mit den relativ bedeutenderen Hülfsmit- teln, welche der Malerei für die Nachahmung der Natur zu Gebote stehen, Gleiches zu wagen. Allein Farbe, Licht und Schatten und deren Wirken auf die Gegenstände sind wandel- bar und vielfachen Wechseln unterworfen. Es konnte daher nicht ausbleiben, dass man anfing, statt mit der Wirklichkeit mit dem Scheine derselben zu wetteifern und geradezu Täu- schung zu versuchen. Wir werden in der Geschichte der Ma- ler sehen, dass dieser Umschwung namentlich durch den Ein-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/326>, abgerufen am 12.05.2024.