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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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die Grenzen der durch dieselben begründeten Richtungen; und
ihr Einfluss lässt sich, so sicher er auch noch ferner gewirkt
haben wird, im Einzelnen nicht weiter verfolgen.

Freilich müssen, um diese Erscheinung ganz zu erklären,
auch noch andere, tiefergreifende Verhältnisse in Betracht ge-
zogen werden, welche uns zugleich darüber belehren, weshalb
in dieser Zeit ein gewisser Stillstand in der Entwickelung ein-
trat, und ein neuer Aufschwung erst etwa hundert Jahre nach
dem Auftreten des Phidias sich bemerklich machte. Zuerst ist
es nothwendig, einen Blick auf die politischen Zustände zu
werfen. Die Wechselfälle des peloponnesischen Krieges er-
zeugten eine Erschöpfung der meisten Staaten, namentlich aber
Athens. Unter ähnlichen Verhältnissen müssen stets die Staa-
ten zunächst das praktisch Nützliche ins Auge fassen, und
erst wenn der materielle Wohlstand sich wieder gehoben hat,
fängt das Schöne von Neuem an, ein Bedürfniss zu werden,
Wir sahen, wie die Kunst des Phidias sich zu ihrer gewalti-
gen Höhe gerade dadurch emporgeschwungen hatte, dass sie
die Kunst des attischen Staates war. Jetzt beginnt ihr diese
Unterstützung zu fehlen. Ausser dem Bau der Propylaeen,
welcher noch während des Krieges fort- und, wie es scheint
zu Ende geführt wurde, kennen wir in dieser und der näch-
sten Zeit kein Bauwerk von Bedeutung, bei dessen Aus-
schmückung der Thätigkeit des Bildhauers ein weiterer Spiel-
raum gewährt worden wäre. Von bekannten Werken haben
wir nur eine Athene und einen Zeusaltar des Kephisodot, und
auch diese nur vermuthungsweise, mit den Bauten des Konon
im Peiraeeus in Verbindung gesetzt. Fast alle übrigen Werke
in Athen aus der zweiten Hälfte dieser Periode erweisen sich,
wo die Veranlassung der Weihung bekannt ist, als Geschenke
von Privatleuten, die natürlich in ihren Mitteln beschränkter
als der Staat waren und sich mit Werken geringeren Umfan-
ges begnügen mussten. Noch tiefer aber, als diese Umwand-
lung der äusseren Verhältnisse, scheint die innere Veränderung,
welche während dieses Krieges in dem gesammten Leben des
griechischen Volkes vor sich ging, auch auf die Kunst einge-
wirkt zu haben. "Sinnlichkeit und Leidenschaft auf der einen
Seite, und eine sophistische Bildung des Verstandes und der
Rede auf der andern, treten an die Stelle der festen und durch
sichere Gefühle geleiteten Denkweise früherer Zeiten; das grie-

die Grenzen der durch dieselben begründeten Richtungen; und
ihr Einfluss lässt sich, so sicher er auch noch ferner gewirkt
haben wird, im Einzelnen nicht weiter verfolgen.

Freilich müssen, um diese Erscheinung ganz zu erklären,
auch noch andere, tiefergreifende Verhältnisse in Betracht ge-
zogen werden, welche uns zugleich darüber belehren, weshalb
in dieser Zeit ein gewisser Stillstand in der Entwickelung ein-
trat, und ein neuer Aufschwung erst etwa hundert Jahre nach
dem Auftreten des Phidias sich bemerklich machte. Zuerst ist
es nothwendig, einen Blick auf die politischen Zustände zu
werfen. Die Wechselfälle des peloponnesischen Krieges er-
zeugten eine Erschöpfung der meisten Staaten, namentlich aber
Athens. Unter ähnlichen Verhältnissen müssen stets die Staa-
ten zunächst das praktisch Nützliche ins Auge fassen, und
erst wenn der materielle Wohlstand sich wieder gehoben hat,
fängt das Schöne von Neuem an, ein Bedürfniss zu werden,
Wir sahen, wie die Kunst des Phidias sich zu ihrer gewalti-
gen Höhe gerade dadurch emporgeschwungen hatte, dass sie
die Kunst des attischen Staates war. Jetzt beginnt ihr diese
Unterstützung zu fehlen. Ausser dem Bau der Propylaeen,
welcher noch während des Krieges fort- und, wie es scheint
zu Ende geführt wurde, kennen wir in dieser und der näch-
sten Zeit kein Bauwerk von Bedeutung, bei dessen Aus-
schmückung der Thätigkeit des Bildhauers ein weiterer Spiel-
raum gewährt worden wäre. Von bekannten Werken haben
wir nur eine Athene und einen Zeusaltar des Kephisodot, und
auch diese nur vermuthungsweise, mit den Bauten des Konon
im Peiraeeus in Verbindung gesetzt. Fast alle übrigen Werke
in Athen aus der zweiten Hälfte dieser Periode erweisen sich,
wo die Veranlassung der Weihung bekannt ist, als Geschenke
von Privatleuten, die natürlich in ihren Mitteln beschränkter
als der Staat waren und sich mit Werken geringeren Umfan-
ges begnügen mussten. Noch tiefer aber, als diese Umwand-
lung der äusseren Verhältnisse, scheint die innere Veränderung,
welche während dieses Krieges in dem gesammten Leben des
griechischen Volkes vor sich ging, auch auf die Kunst einge-
wirkt zu haben. „Sinnlichkeit und Leidenschaft auf der einen
Seite, und eine sophistische Bildung des Verstandes und der
Rede auf der andern, treten an die Stelle der festen und durch
sichere Gefühle geleiteten Denkweise früherer Zeiten; das grie-

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[312/0325] die Grenzen der durch dieselben begründeten Richtungen; und ihr Einfluss lässt sich, so sicher er auch noch ferner gewirkt haben wird, im Einzelnen nicht weiter verfolgen. Freilich müssen, um diese Erscheinung ganz zu erklären, auch noch andere, tiefergreifende Verhältnisse in Betracht ge- zogen werden, welche uns zugleich darüber belehren, weshalb in dieser Zeit ein gewisser Stillstand in der Entwickelung ein- trat, und ein neuer Aufschwung erst etwa hundert Jahre nach dem Auftreten des Phidias sich bemerklich machte. Zuerst ist es nothwendig, einen Blick auf die politischen Zustände zu werfen. Die Wechselfälle des peloponnesischen Krieges er- zeugten eine Erschöpfung der meisten Staaten, namentlich aber Athens. Unter ähnlichen Verhältnissen müssen stets die Staa- ten zunächst das praktisch Nützliche ins Auge fassen, und erst wenn der materielle Wohlstand sich wieder gehoben hat, fängt das Schöne von Neuem an, ein Bedürfniss zu werden, Wir sahen, wie die Kunst des Phidias sich zu ihrer gewalti- gen Höhe gerade dadurch emporgeschwungen hatte, dass sie die Kunst des attischen Staates war. Jetzt beginnt ihr diese Unterstützung zu fehlen. Ausser dem Bau der Propylaeen, welcher noch während des Krieges fort- und, wie es scheint zu Ende geführt wurde, kennen wir in dieser und der näch- sten Zeit kein Bauwerk von Bedeutung, bei dessen Aus- schmückung der Thätigkeit des Bildhauers ein weiterer Spiel- raum gewährt worden wäre. Von bekannten Werken haben wir nur eine Athene und einen Zeusaltar des Kephisodot, und auch diese nur vermuthungsweise, mit den Bauten des Konon im Peiraeeus in Verbindung gesetzt. Fast alle übrigen Werke in Athen aus der zweiten Hälfte dieser Periode erweisen sich, wo die Veranlassung der Weihung bekannt ist, als Geschenke von Privatleuten, die natürlich in ihren Mitteln beschränkter als der Staat waren und sich mit Werken geringeren Umfan- ges begnügen mussten. Noch tiefer aber, als diese Umwand- lung der äusseren Verhältnisse, scheint die innere Veränderung, welche während dieses Krieges in dem gesammten Leben des griechischen Volkes vor sich ging, auch auf die Kunst einge- wirkt zu haben. „Sinnlichkeit und Leidenschaft auf der einen Seite, und eine sophistische Bildung des Verstandes und der Rede auf der andern, treten an die Stelle der festen und durch sichere Gefühle geleiteten Denkweise früherer Zeiten; das grie-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/325>, abgerufen am 13.05.2024.