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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Zeugniss des Plinius und des Pausanias, für sich in Anspruch
nehmen, welche nach seiner Meinung den Sieg über die Ver-
muthung davon tragen müsse. Sehen wir genauer zu: sollte
Plinius von dem berühmten Polyklet aus Argos wirklich nichts
erfahren haben, dagegen ausführlich von einem Sikyonier be-
richten, welcher selbst nach Thiersch's Ansicht dem Argiver
weit nachstände? Pausanias aber, der ja ausdrücklich zwei
Künstler desselben Namens, den Lehrer und den Schüler des
Naukydes, unterscheidet, sollte er des Sikyoniers mit keinem
Worte Erwähnung thun? Wie aber verfährt, alles andere
zugegeben, Thiersch mit seinem urkundlichen Sikyonier? Man
sollte hoffen, er werde dieses Schoosskind mit besonderer Liebe
pflegen. Im Gegentheil: alle die schönen Werke, alle die Lob-
sprüche, welche die Urkunde bei Plinius diesem ertheilt, ent-
reisst er ihm und erkennt sie dem Argiver zu. Für den Si-
kyonier bleibt kein einziges Werk mit Sicherheit übrig, viel-
mehr nur dasjenige, was bei Plinius als Tadel oder als minder
lobenswürdig an Polyklet gerügt wird. Ist unter solchen Um-
ständen nicht die Annahme weit einfacher und natürlicher, dass
der Künstler, welcher der Schule von Argos angehörte, wel-
cher dort sein bedeutendstes Werk aufstellte, nach diesem
seinem zweiten Vaterlande Argiver genannt wurde, auch wenn
er in Sikyon geboren war, noch dazu, wenn wir bedenken,
wie eng beide Städte durch Freundschaft und Verwandtschaft
nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in den Kunst-
schulen verbunden waren?

Sehen wir nun weiter, ob die Angaben über die Zeit eine
Scheidung in zwei Personen nöthig machen. Plinius 1) setzt Po-
lyklet in die 90ste Olympiade: eine Zeitbestimmung, die offenbar
von der Aufstellung der Hera in Argos hergenommen ist, deren
Tempel Ol. 89, 2 (423 v. Chr.) abbrannte 2). Ausserdem nennt
ihn Plinius Schüler des Ageladas. Da dieser nun, wie wir ge-
sehen haben, noch Ol. 81, 2 thätig sein konnte, so liegt in bei-
den Angaben nichts, was sich nicht auf eine einzige Per-
son beziehen liesse. Ferner sucht Thiersch einen Stützpunkt
für seine Ansicht in einer Stelle des Plinius 3), in welcher
Telephanes aus Phokis, der für Xerxes und Darius thätig war,
mit Polyklet, Myron und Pythagoras verglichen wird. Die

1) 34, 49.
2) Thuc. IV, 133.
3) 34, 68.
14 *

Zeugniss des Plinius und des Pausanias, für sich in Anspruch
nehmen, welche nach seiner Meinung den Sieg über die Ver-
muthung davon tragen müsse. Sehen wir genauer zu: sollte
Plinius von dem berühmten Polyklet aus Argos wirklich nichts
erfahren haben, dagegen ausführlich von einem Sikyonier be-
richten, welcher selbst nach Thiersch’s Ansicht dem Argiver
weit nachstände? Pausanias aber, der ja ausdrücklich zwei
Künstler desselben Namens, den Lehrer und den Schüler des
Naukydes, unterscheidet, sollte er des Sikyoniers mit keinem
Worte Erwähnung thun? Wie aber verfährt, alles andere
zugegeben, Thiersch mit seinem urkundlichen Sikyonier? Man
sollte hoffen, er werde dieses Schoosskind mit besonderer Liebe
pflegen. Im Gegentheil: alle die schönen Werke, alle die Lob-
sprüche, welche die Urkunde bei Plinius diesem ertheilt, ent-
reisst er ihm und erkennt sie dem Argiver zu. Für den Si-
kyonier bleibt kein einziges Werk mit Sicherheit übrig, viel-
mehr nur dasjenige, was bei Plinius als Tadel oder als minder
lobenswürdig an Polyklet gerügt wird. Ist unter solchen Um-
ständen nicht die Annahme weit einfacher und natürlicher, dass
der Künstler, welcher der Schule von Argos angehörte, wel-
cher dort sein bedeutendstes Werk aufstellte, nach diesem
seinem zweiten Vaterlande Argiver genannt wurde, auch wenn
er in Sikyon geboren war, noch dazu, wenn wir bedenken,
wie eng beide Städte durch Freundschaft und Verwandtschaft
nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in den Kunst-
schulen verbunden waren?

Sehen wir nun weiter, ob die Angaben über die Zeit eine
Scheidung in zwei Personen nöthig machen. Plinius 1) setzt Po-
lyklet in die 90ste Olympiade: eine Zeitbestimmung, die offenbar
von der Aufstellung der Hera in Argos hergenommen ist, deren
Tempel Ol. 89, 2 (423 v. Chr.) abbrannte 2). Ausserdem nennt
ihn Plinius Schüler des Ageladas. Da dieser nun, wie wir ge-
sehen haben, noch Ol. 81, 2 thätig sein konnte, so liegt in bei-
den Angaben nichts, was sich nicht auf eine einzige Per-
son beziehen liesse. Ferner sucht Thiersch einen Stützpunkt
für seine Ansicht in einer Stelle des Plinius 3), in welcher
Telephanes aus Phokis, der für Xerxes und Darius thätig war,
mit Polyklet, Myron und Pythagoras verglichen wird. Die

1) 34, 49.
2) Thuc. IV, 133.
3) 34, 68.
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[211/0224] Zeugniss des Plinius und des Pausanias, für sich in Anspruch nehmen, welche nach seiner Meinung den Sieg über die Ver- muthung davon tragen müsse. Sehen wir genauer zu: sollte Plinius von dem berühmten Polyklet aus Argos wirklich nichts erfahren haben, dagegen ausführlich von einem Sikyonier be- richten, welcher selbst nach Thiersch’s Ansicht dem Argiver weit nachstände? Pausanias aber, der ja ausdrücklich zwei Künstler desselben Namens, den Lehrer und den Schüler des Naukydes, unterscheidet, sollte er des Sikyoniers mit keinem Worte Erwähnung thun? Wie aber verfährt, alles andere zugegeben, Thiersch mit seinem urkundlichen Sikyonier? Man sollte hoffen, er werde dieses Schoosskind mit besonderer Liebe pflegen. Im Gegentheil: alle die schönen Werke, alle die Lob- sprüche, welche die Urkunde bei Plinius diesem ertheilt, ent- reisst er ihm und erkennt sie dem Argiver zu. Für den Si- kyonier bleibt kein einziges Werk mit Sicherheit übrig, viel- mehr nur dasjenige, was bei Plinius als Tadel oder als minder lobenswürdig an Polyklet gerügt wird. Ist unter solchen Um- ständen nicht die Annahme weit einfacher und natürlicher, dass der Künstler, welcher der Schule von Argos angehörte, wel- cher dort sein bedeutendstes Werk aufstellte, nach diesem seinem zweiten Vaterlande Argiver genannt wurde, auch wenn er in Sikyon geboren war, noch dazu, wenn wir bedenken, wie eng beide Städte durch Freundschaft und Verwandtschaft nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in den Kunst- schulen verbunden waren? Sehen wir nun weiter, ob die Angaben über die Zeit eine Scheidung in zwei Personen nöthig machen. Plinius 1) setzt Po- lyklet in die 90ste Olympiade: eine Zeitbestimmung, die offenbar von der Aufstellung der Hera in Argos hergenommen ist, deren Tempel Ol. 89, 2 (423 v. Chr.) abbrannte 2). Ausserdem nennt ihn Plinius Schüler des Ageladas. Da dieser nun, wie wir ge- sehen haben, noch Ol. 81, 2 thätig sein konnte, so liegt in bei- den Angaben nichts, was sich nicht auf eine einzige Per- son beziehen liesse. Ferner sucht Thiersch einen Stützpunkt für seine Ansicht in einer Stelle des Plinius 3), in welcher Telephanes aus Phokis, der für Xerxes und Darius thätig war, mit Polyklet, Myron und Pythagoras verglichen wird. Die 1) 34, 49. 2) Thuc. IV, 133. 3) 34, 68. 14 *

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/224>, abgerufen am 22.11.2024.