also einer Reihe von Ideen durch den einzigen menschlichen Körper Gestalt zu verleihen. Um dies aber zu vermögen, ist es nöthig, dass sie die Natur zum Vorbilde nehme, nicht in den einzelnen Erscheinungen des Lebens, sondern in den Ge- setzen ihrer Bildungen. Wir sagten, der Körper sei die Hülle des Geistes; aber der Geist übt auch seine Wirkung auf den Körper, und dieses Wirken findet in bestimmten Formen des Körpers seinen beständigen Ausdruck. Nun ist jeder der grie- chischen Gottheiten ein bestimmter geistiger Charakter eigen- thümlich, welcher an bestimmten Theilen des Körpers in be- stimmten Formen sich offenbaren muss. Dieser Theil in dieser Form ist vorzugsweise der Träger der Idee; und dass er in seiner grössten Schärfe und Bestimmtheit erfasst werde, ist also die Grundbedingung, durch welche allein die Lösung der künstlerischen Aufgabe überhaupt möglich wird. Handelt es sich nun schon hier um etwas, welches zu bestimmen nicht der Willkür des Künstlers überlassen bleiben kann, sondern um etwas Gegebenes, in sich Nothwendiges, so sind in allen übrigen Theilen dem Willen des Künstlers noch weit engere Grenzen gezogen. Denn wo es sich um die Bildung organi- scher Geschöpfe handelt, ergiebt sich mit Nothwendigkeit aus der einen Form die andere, aus den einzelnen Formen das Ganze. Allein in der Welt der einzelnen Erscheinung will freilich, wie Aristoteles 1) sich ausdrückt, die Natur, d. h. die organische Naturkraft, organisch wirken, kann aber dieses Ziel nicht erreichen. Sie wird gehemmt und bedingt durch Zufälligkeiten, welche jedoch nicht das Gesetz der Bildung selbst aufzuheben vermögen, sondern häufig noch dienen müs- sen, dasselbe zu bestätigen. Der Künstler dagegen, wenn er Ideale, Gestalten, in denen eine Idee verkörpert erscheinen soll, bilden will, darf sich durch alle diese Zufälligkeiten, welche die Natur in der Wirklichkeit begleiten, nirgends bin- den lassen; er muss zu dem einen Theile, welcher Träger der Idee ist, alle übrigen Formen nach den organischen, nothwen- digen Gesetzen der Natur hinzubilden. So hat man wohl sa- gen können, der Künstler gehe bei der Idealbildung über die Natur, nemlich die gewöhnliche Natur hinaus; in der That aber zeigt er uns nur die Natur in ihrer reinsten und voll-
1) Polit. I.
also einer Reihe von Ideen durch den einzigen menschlichen Körper Gestalt zu verleihen. Um dies aber zu vermögen, ist es nöthig, dass sie die Natur zum Vorbilde nehme, nicht in den einzelnen Erscheinungen des Lebens, sondern in den Ge- setzen ihrer Bildungen. Wir sagten, der Körper sei die Hülle des Geistes; aber der Geist übt auch seine Wirkung auf den Körper, und dieses Wirken findet in bestimmten Formen des Körpers seinen beständigen Ausdruck. Nun ist jeder der grie- chischen Gottheiten ein bestimmter geistiger Charakter eigen- thümlich, welcher an bestimmten Theilen des Körpers in be- stimmten Formen sich offenbaren muss. Dieser Theil in dieser Form ist vorzugsweise der Träger der Idee; und dass er in seiner grössten Schärfe und Bestimmtheit erfasst werde, ist also die Grundbedingung, durch welche allein die Lösung der künstlerischen Aufgabe überhaupt möglich wird. Handelt es sich nun schon hier um etwas, welches zu bestimmen nicht der Willkür des Künstlers überlassen bleiben kann, sondern um etwas Gegebenes, in sich Nothwendiges, so sind in allen übrigen Theilen dem Willen des Künstlers noch weit engere Grenzen gezogen. Denn wo es sich um die Bildung organi- scher Geschöpfe handelt, ergiebt sich mit Nothwendigkeit aus der einen Form die andere, aus den einzelnen Formen das Ganze. Allein in der Welt der einzelnen Erscheinung will freilich, wie Aristoteles 1) sich ausdrückt, die Natur, d. h. die organische Naturkraft, organisch wirken, kann aber dieses Ziel nicht erreichen. Sie wird gehemmt und bedingt durch Zufälligkeiten, welche jedoch nicht das Gesetz der Bildung selbst aufzuheben vermögen, sondern häufig noch dienen müs- sen, dasselbe zu bestätigen. Der Künstler dagegen, wenn er Ideale, Gestalten, in denen eine Idee verkörpert erscheinen soll, bilden will, darf sich durch alle diese Zufälligkeiten, welche die Natur in der Wirklichkeit begleiten, nirgends bin- den lassen; er muss zu dem einen Theile, welcher Träger der Idee ist, alle übrigen Formen nach den organischen, nothwen- digen Gesetzen der Natur hinzubilden. So hat man wohl sa- gen können, der Künstler gehe bei der Idealbildung über die Natur, nemlich die gewöhnliche Natur hinaus; in der That aber zeigt er uns nur die Natur in ihrer reinsten und voll-
1) Polit. I.
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[199/0212]
also einer Reihe von Ideen durch den einzigen menschlichen
Körper Gestalt zu verleihen. Um dies aber zu vermögen, ist
es nöthig, dass sie die Natur zum Vorbilde nehme, nicht in
den einzelnen Erscheinungen des Lebens, sondern in den Ge-
setzen ihrer Bildungen. Wir sagten, der Körper sei die Hülle
des Geistes; aber der Geist übt auch seine Wirkung auf den
Körper, und dieses Wirken findet in bestimmten Formen des
Körpers seinen beständigen Ausdruck. Nun ist jeder der grie-
chischen Gottheiten ein bestimmter geistiger Charakter eigen-
thümlich, welcher an bestimmten Theilen des Körpers in be-
stimmten Formen sich offenbaren muss. Dieser Theil in dieser
Form ist vorzugsweise der Träger der Idee; und dass er in
seiner grössten Schärfe und Bestimmtheit erfasst werde, ist
also die Grundbedingung, durch welche allein die Lösung der
künstlerischen Aufgabe überhaupt möglich wird. Handelt es
sich nun schon hier um etwas, welches zu bestimmen nicht
der Willkür des Künstlers überlassen bleiben kann, sondern
um etwas Gegebenes, in sich Nothwendiges, so sind in allen
übrigen Theilen dem Willen des Künstlers noch weit engere
Grenzen gezogen. Denn wo es sich um die Bildung organi-
scher Geschöpfe handelt, ergiebt sich mit Nothwendigkeit aus
der einen Form die andere, aus den einzelnen Formen das
Ganze. Allein in der Welt der einzelnen Erscheinung will
freilich, wie Aristoteles 1) sich ausdrückt, die Natur, d. h. die
organische Naturkraft, organisch wirken, kann aber dieses
Ziel nicht erreichen. Sie wird gehemmt und bedingt durch
Zufälligkeiten, welche jedoch nicht das Gesetz der Bildung
selbst aufzuheben vermögen, sondern häufig noch dienen müs-
sen, dasselbe zu bestätigen. Der Künstler dagegen, wenn er
Ideale, Gestalten, in denen eine Idee verkörpert erscheinen
soll, bilden will, darf sich durch alle diese Zufälligkeiten,
welche die Natur in der Wirklichkeit begleiten, nirgends bin-
den lassen; er muss zu dem einen Theile, welcher Träger der
Idee ist, alle übrigen Formen nach den organischen, nothwen-
digen Gesetzen der Natur hinzubilden. So hat man wohl sa-
gen können, der Künstler gehe bei der Idealbildung über die
Natur, nemlich die gewöhnliche Natur hinaus; in der That
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/212>, abgerufen am 09.11.2024.
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