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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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die Promachos sichtbar ist, stehen unter einander in Wider-
spruch. Die einen 1) zeigen das Bild der Göttin mit dem Schil-
de am Arm und dem Speer in der erhobenen Rechten; in an-
deren 2) steht der Schild am Boden, und ebenso ist die Lanze
auf den Boden gestützt. Was Pausanias von der Lanzen-
spitze sagt, passt streng genommen nur auf die zweite Art
der Darstellung; jedoch würde auch bei der ersten, wenn
nicht die Spitze, so doch das Schaftende der Lanze mit dem
Helmbusch in gleicher Höhe sehr wohl denkbar sein; weshalb
eine bestimmte Entscheidung besser nicht gegeben wird. Der
Schild war mit cisellirter Arbeit, darunter dem Kampfe der
Lapithen und Kentauren, geschmückt, aber nicht von Phidias
selbst, sondern Mys hatte sie nach Zeichnungen des Parrha-
sios, der etwa ein Menschenalter nach Phidias blühte, ausge-
führt. Man hat daraus schliessen wollen, dass die Athene des
Phidias bis dahin unvollendet geblieben sei. Allein diese Ci-
sellirungen sind ein von der Conception des Ganzen unabhän-
giger Schmuck, welcher recht wohl später hinzugefügt werden
konnte 3)

Höher als die Promachos ward als Kunstwerk ein ehernes
Bild der Athene geschätzt, welches nach Pausanias 4) die
Lemnier 5) auf der Akropolis von Athen geweiht hatten, wes-
halb es von Lucian 6) kurzweg e Lemnia genannt wird. Die
Lobsprüche, welche der letztere ihr ertheilt, berechtigen uns,
auch die Nachrichten bei Plinius 7) und Himerius 8) auf sie zu
beziehen. Plinius sagt: Phidias habe eine Minerva von so
ausgezeichneter Schönheit gemacht, dass sie von ihrer Gestalt
den Beinamen erhalten habe: ut formae cognomen acceperit.
Man hat daraus auf verschiedene Beinamen geschlossen: kal-
limorphos, kale, kalliste, oder formae in formosae verwandelt 9).
Am ansprechendsten bleibt aber die Vermuthung O. Jahn's 10),
dass formae die Uebersetzung des grichischen Morpho sei, ei-

1) Müll. n. Oest. Denkm. I, 20, n. 104.
2) Gerhard Minervenidole IV, 1.
3) Eine kolossale Eule, welche nach der Münze bei Gerhard von der Athene
unabhängig auf dem Rande der Akropolis aufgestellt war, scheint wenigstens
in späterer Zeit für ein Werk des Phidias gegolten zu haben: Hesych s. v.
glaux en polei. Dio Chrysost. XII, p. 195. Ihr gehören wahrscheinlich einige
in neuerer Zeit gefundene Bruchstücke an.
4) I, 28, 2.
5) Wahrscheinlich
die attischen Kleruchen auf Lemnos; vgl. Preller S. 185.
6) imagg. 4.
7) 34, 54.
8) Or. XXI, 4.
9) S. die älteren Erklärer des Plinius; Preller
in der Arch. Zeit. 1846, S. 264 und Phidias, S. 185. Osann in der Arch. Zeit.
1848, Beilage 5.
10) Arch. Zeit. 1847, S. 63.

die Promachos sichtbar ist, stehen unter einander in Wider-
spruch. Die einen 1) zeigen das Bild der Göttin mit dem Schil-
de am Arm und dem Speer in der erhobenen Rechten; in an-
deren 2) steht der Schild am Boden, und ebenso ist die Lanze
auf den Boden gestützt. Was Pausanias von der Lanzen-
spitze sagt, passt streng genommen nur auf die zweite Art
der Darstellung; jedoch würde auch bei der ersten, wenn
nicht die Spitze, so doch das Schaftende der Lanze mit dem
Helmbusch in gleicher Höhe sehr wohl denkbar sein; weshalb
eine bestimmte Entscheidung besser nicht gegeben wird. Der
Schild war mit cisellirter Arbeit, darunter dem Kampfe der
Lapithen und Kentauren, geschmückt, aber nicht von Phidias
selbst, sondern Mys hatte sie nach Zeichnungen des Parrha-
sios, der etwa ein Menschenalter nach Phidias blühte, ausge-
führt. Man hat daraus schliessen wollen, dass die Athene des
Phidias bis dahin unvollendet geblieben sei. Allein diese Ci-
sellirungen sind ein von der Conception des Ganzen unabhän-
giger Schmuck, welcher recht wohl später hinzugefügt werden
konnte 3)

Höher als die Promachos ward als Kunstwerk ein ehernes
Bild der Athene geschätzt, welches nach Pausanias 4) die
Lemnier 5) auf der Akropolis von Athen geweiht hatten, wes-
halb es von Lucian 6) kurzweg ἡ Λημνία genannt wird. Die
Lobsprüche, welche der letztere ihr ertheilt, berechtigen uns,
auch die Nachrichten bei Plinius 7) und Himerius 8) auf sie zu
beziehen. Plinius sagt: Phidias habe eine Minerva von so
ausgezeichneter Schönheit gemacht, dass sie von ihrer Gestalt
den Beinamen erhalten habe: ut formae cognomen acceperit.
Man hat daraus auf verschiedene Beinamen geschlossen: καλ-
λίμορφος, καλὴ, καλλίστη, oder formae in formosae verwandelt 9).
Am ansprechendsten bleibt aber die Vermuthung O. Jahn’s 10),
dass formae die Uebersetzung des grichischen Μορφὼ sei, ei-

1) Müll. n. Oest. Denkm. I, 20, n. 104.
2) Gerhard Minervenidole IV, 1.
3) Eine kolossale Eule, welche nach der Münze bei Gerhard von der Athene
unabhängig auf dem Rande der Akropolis aufgestellt war, scheint wenigstens
in späterer Zeit für ein Werk des Phidias gegolten zu haben: Hesych s. v.
γλαῦξ ἐν πόλει. Dio Chrysost. XII, p. 195. Ihr gehören wahrscheinlich einige
in neuerer Zeit gefundene Bruchstücke an.
4) I, 28, 2.
5) Wahrscheinlich
die attischen Kleruchen auf Lemnos; vgl. Preller S. 185.
6) imagg. 4.
7) 34, 54.
8) Or. XXI, 4.
9) S. die älteren Erklärer des Plinius; Preller
in der Arch. Zeit. 1846, S. 264 und Phidias, S. 185. Osann in der Arch. Zeit.
1848, Beilage 5.
10) Arch. Zeit. 1847, S. 63.
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[182/0195] die Promachos sichtbar ist, stehen unter einander in Wider- spruch. Die einen 1) zeigen das Bild der Göttin mit dem Schil- de am Arm und dem Speer in der erhobenen Rechten; in an- deren 2) steht der Schild am Boden, und ebenso ist die Lanze auf den Boden gestützt. Was Pausanias von der Lanzen- spitze sagt, passt streng genommen nur auf die zweite Art der Darstellung; jedoch würde auch bei der ersten, wenn nicht die Spitze, so doch das Schaftende der Lanze mit dem Helmbusch in gleicher Höhe sehr wohl denkbar sein; weshalb eine bestimmte Entscheidung besser nicht gegeben wird. Der Schild war mit cisellirter Arbeit, darunter dem Kampfe der Lapithen und Kentauren, geschmückt, aber nicht von Phidias selbst, sondern Mys hatte sie nach Zeichnungen des Parrha- sios, der etwa ein Menschenalter nach Phidias blühte, ausge- führt. Man hat daraus schliessen wollen, dass die Athene des Phidias bis dahin unvollendet geblieben sei. Allein diese Ci- sellirungen sind ein von der Conception des Ganzen unabhän- giger Schmuck, welcher recht wohl später hinzugefügt werden konnte 3) Höher als die Promachos ward als Kunstwerk ein ehernes Bild der Athene geschätzt, welches nach Pausanias 4) die Lemnier 5) auf der Akropolis von Athen geweiht hatten, wes- halb es von Lucian 6) kurzweg ἡ Λημνία genannt wird. Die Lobsprüche, welche der letztere ihr ertheilt, berechtigen uns, auch die Nachrichten bei Plinius 7) und Himerius 8) auf sie zu beziehen. Plinius sagt: Phidias habe eine Minerva von so ausgezeichneter Schönheit gemacht, dass sie von ihrer Gestalt den Beinamen erhalten habe: ut formae cognomen acceperit. Man hat daraus auf verschiedene Beinamen geschlossen: καλ- λίμορφος, καλὴ, καλλίστη, oder formae in formosae verwandelt 9). Am ansprechendsten bleibt aber die Vermuthung O. Jahn’s 10), dass formae die Uebersetzung des grichischen Μορφὼ sei, ei- 1) Müll. n. Oest. Denkm. I, 20, n. 104. 2) Gerhard Minervenidole IV, 1. 3) Eine kolossale Eule, welche nach der Münze bei Gerhard von der Athene unabhängig auf dem Rande der Akropolis aufgestellt war, scheint wenigstens in späterer Zeit für ein Werk des Phidias gegolten zu haben: Hesych s. v. γλαῦξ ἐν πόλει. Dio Chrysost. XII, p. 195. Ihr gehören wahrscheinlich einige in neuerer Zeit gefundene Bruchstücke an. 4) I, 28, 2. 5) Wahrscheinlich die attischen Kleruchen auf Lemnos; vgl. Preller S. 185. 6) imagg. 4. 7) 34, 54. 8) Or. XXI, 4. 9) S. die älteren Erklärer des Plinius; Preller in der Arch. Zeit. 1846, S. 264 und Phidias, S. 185. Osann in der Arch. Zeit. 1848, Beilage 5. 10) Arch. Zeit. 1847, S. 63.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/195>, abgerufen am 28.04.2024.